Am 11. Januar 2017 ist es endlich soweit: Das Eröffnungskonzert bestreitet das NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung von Thomas Hengelbrock. Im Interview erklärt der Chefdirigent, warum sich das Warten auf die Fertigstellung gelohnt hat, was eine exzellente Bauakustik auszeichnet und warum Bauingenieure schon immer im Spannungsfeld zwischen Baukunst und Skepsis standen. Die Fragen stellte André Boße
Herr Hengelbrock, wenn wir bei einem Konzertsaal von einer guten oder schlechten Akustik sprechen, welche Indikatoren spielen dann eine Rolle?
Vereinfacht gesagt: Wenn sich ein Kammerorchesterdarin genauso gut anhört wie ein großes Sinfonieorchester. Es kommt auf das Zusammenspiel zahlreicher Faktoren an: Zunächst müssen die Entstehung, Verschmelzung und Fülle des Klanges perfekt austariert sein. Weiterhin sind Transparenz, Lautstärkenentwicklung, Klangverlauf und Nachhall wichtige Indikatoren. Auf der Bühne müssen sich die Musiker gut hören können, der Kontakt zwischen den einzelnen Stimm- und Instrumentengruppen muss gegeben sein. Der Nachhall sollte in einem Opernhaus oder Konzertsaal bei 1,5 bis 2 Sekunden liegen. Zum Vergleich: In großen Kirchen ist er oft über fünf Sekunden lang. Ist der Nachhall besonders kurz, wirkt der Raum „tot“. All das ist Physik – ein sehr spannendes Feld, wie ich finde.
Zur Person
Thomas Hengelbrock, am 9. Juni 1958 in Wilhelmshaven geboren, studierte Violine und startete seine Musiker-Laufbahn als Violinist. In den 1990er Jahren gründete er den Balthasar Neumann-Chor sowie das Balthasar Neumann-Ensemble. Bei den Bayreuther Festspielen debütierte er 2011 mit Wagners „Tannhäuser“.
Als Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters „beflügelt er Hamburg“ und „lockt immer neue Wunder aus dem Orchester hervor“, wie das Hamburger Abendblatt schrieb.
Vier CD-Einspielungen mit Sinfonien von Mahler, Dvorák, Mendelssohn, Schumann und Schubert sind bisher erschienen; Tourneen führten Dirigent und Orchester durch Deutschland, Europa und Asien. Aufgrund seines Engagements in der Musikvermittlung wurde Thomas Hengelbrock 2016 der Herbert von Karajan-Musikpreis verliehen.
Welche Hoffnung verbinden Sie mit der Elbphilharmonie?
Nach der Probenpremiere im Großen Saal der Elbphilharmonie kann ich sagen, dass das Akustikkonzept allen Kostendiskussionen, Eröffnungsterminverschiebungen und Zweifeln zum Trotz voll aufgegangen ist: Der Raum ist transparent und gibt die einzelnen Instrumentenfarben trennscharf wieder. Er entwickelt einen sehr warmen, dennoch brillanten Klang im Publikum, er funktioniert aber auch im Bühnenraum. Mir persönlich verschafft das die luxuriöse Situation, mich vollendsauf die Interpretation konzentrieren zu können – denn es ist einfach jeder zu hören. Ich bin mir sicher, dass die Elbphilharmonie schon bald in die Liga der besten Säle der Welt eingereiht wird.
Gibt es in der Elbphilharmonie bauliche Ideen und Innovationen, die Sie mit Blick auf die Akustik für besonders gelungen halten?
Die größte Errungenschaft ist für mich die gelungene Verbindung aus der baulich bedingten hervorragenden Sicht mit einer fantastischen Akustik. Die wichtigste Entscheidung fiel mit der Wahl der terrassenförmigen Anordnung der Ränge, die eher an Weinberge erinnern als an die herkömmlichen Schuhkartons. Das funktioniert einfach fantastisch. Daneben begeistert mich auch die ästhetische Wirkung der Umsetzung: Nicht nur von außen hat die Elbphilharmonie eine einzigartige Aura, sondern auch von innen: Die gedeckten Farben und die phänomenale Beleuchtung verleihendem Saal trotz seiner Größe eine gewisse Intimität, man fühlt sich sehr geborgen.
Sind Sie beim Aufbau einer Bühne kompromissbereit?
Bei Konzertveranstaltern eilt mir ja schon länger der Ruf voraus, beim Aufbau der Bühne keine Kompromisse einzugehen. Nach meinem Ideal muss die Bühne nach hinten hin sukzessiv ansteigen. Das hat einerseits klangliche Gründe: Ein gestufter Aufbau und hohe Chorpodeste im Halbkreis erzeugen konzentrierten Klang und verhindern, dass der Chor vom Orchester übertönt wird. Aber es geht auch um das Publikum: Von jedem Platz im Publikum aus sollten Chor und Orchester zu sehen sein. Und genau das wurde im Großen Saal der Elbphilharmonie realisiert. Jeder Sitzplatz hat seine individuelle Sicht. Und wenn Sie ganz oben sitzen, ist die Perspektive einfach atemberaubend.
Wie häufig haben Sie die Baustelle der Elbphilharmonie besucht und was hat Sie dort beim Betrachten des Gebäudes beim Entstehen besonders fasziniert?
In den vergangenen Wochen und Monaten war ich häufig auf der Baustelle und habe mehrere Hafenrundfahrten gemacht, um mich dem Bauwerk von jeder Perspektive aus zu nähern. Dabei ist mir die Bedeutung des Hafens bewusst geworden: Der Hamburger Hafen ist das Kraftzentrum der Stadt. Deswegen ist es ein richtiges und wichtiges Zeichen, dass wir mit der Elbphilharmonie ein kulturelles Gegengewicht zur Wirtschaftsstärke geschaffen haben. Je stärker in unserer Gesellschaft das Geld eine Rolle spielt, desto wichtiger ist es, das kulturell auszugleichen. Und wir Kulturschaffende stehen in der Verantwortung, aktiv für diesen Ausgleich zu sorgen.
Frank Zappa hat einmal gesagt: „Über Musik zu reden ist wie über Architektur zu tanzen.“ Für ihn sei beides schwierig bis unmöglich. Wie definieren Sie die Wechselwirkung zwischen Musik und Architektur?
Würde man versuchen, die Elbphilharmonie zu tanzen, wird das höchstwahrscheinlich eher erheitern als begeistern. Aber die Frage nach der Wechselwirkung zwischen Musik und Architektur ist spannend. Früher wurde Musik häufig für bestimmte Räume komponiert: Ich habe mit meinen Balthasar-Neumann-Ensembles beispielsweise eine CD mit Werken eingespielt, die speziell für die Basilika von San Marco in Venedig komponiert wurden. Wenn Sie sich vorstellen, diese Werke in einem funktionalen, aber akustisch nicht dafür ausgelegten Raum zu spielen, wird das Ergebnis nicht gleichermaßen zufriedenstellend sein. Andererseits faszinieren mich akustische Überraschungen wie Werkhallen, die zu Konzertsälen werden: Der Bunker in Hamburg. Ein Salzbergwerk tief unter der Erde. Ein Schwimmbad, das zum Theater wird. Es ist herrlich, wie kreativ die Konzertortwahl angegangen wird.
Balthasar Neumann, ein Baumeister des Barock und Rokoko, ist der Namensgeber Ihres Ensembles. Was zeichnete ihn als Baumeister aus?
Wir haben ihm rund 100 der wichtigsten Baudenkmäler zu verdanken. Balthasar Neumanns Werke stehen für perfektioniertes Handwerk, höchste künstlerische Entfaltung und ganzheitliches Denken, aber vor allem: Mut zur Kreativität. Balthasar Neumann begriff Baukunst als Freiraum, in dem sich jeder entfalten kann. Junge Bauingenieure treffen heute schnell auf Anforderungen wie Effizienz und Sparsamkeit – Einschränkungen, die Balthasar Neumann vielleicht nicht kannte.
Wie kann es gelingen, sich frei von diesen ökonomischen Zwängen zu machen und den Bau wieder stärker als Baukunst zu begreifen?
Vielleicht hat es diese Freiheit nie gegeben, denn jede Baustelle hat mit eigenen Widrigkeiten zu kämpfen. Neben den angeführten Herausforderungen gab es doch schon immer technische Widrigkeiten, politisches Gerangel oder unterstellten Größenwahn. Balthasar Neumann kämpfte gegen die Skepsis und den Spott seiner Kollegen, die seine schwindelerregend freien Bauwerken die Tragfähigkeit absprachen und seinen Ruf sabotierten. Es gibt die schöne Anekdote von der Baustelle der Würzburger Residenz, für die Neumann ein freischwebendes Treppenhaus entworfen hatte. Als der damalige Konkurrent, der Wiener Architekt Johann Lucas von Hildebrandt, die statische Zuverlässigkeit des Projektes anzweifelte, war sich Neumann seiner Sache so sicher, dass er anbot, nach Abschluss der Bauarbeiten unter dem Gewölbe Kanonen abfeuern zu lassen. Dazu ist es nicht gekommen, aber das Gewölbe überstand sogar die schwere Bombennacht 1945.
Damals ging es um die Frage, ob ein Gebäude trägt oder nicht. Welche Eigenschaft ist heute bestimmend für den Erfolg eines Bauprojekts?
Heute geht es um Nachhaltigkeit. Baukunst soll für die Ewigkeit sein. Sie soll überraschen, in ihre Umgebung passen und funktional sein. Wenn diese Einheit gelingt, ist das Gesamtkunstwerk gelungen und ein Gebäude erfolgreich.
Ist die Elbphilharmonie in diesem Sinne erfolgreich?
Ja, sie darf als gelungen gelten: Die Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron sowie die verantwortlichen Bauingenieure haben mit dem renommierten Akustiker Yasuhisa Toyota zusammengearbeitet. Neueste Technologien sind zum Einsatz gekommen. Auf einem langen Weg wurde ein wunderschönes Gebäude geschaffen. Nun ist es an uns, es mit Leben zu füllen.