Dr. Astrid Seeberger ist eine international anerkannte Nierenspezialistin und arbeitet am renommierten Karolinska-Institut in Stockholm. Das Geheimnis ihrer medizinischen Laufbahn ist nicht nur ihre fachliche Expertise: Die 63-Jährige versteht sich vor allem auf gute Gespräche. Ihre Forderung an junge Ärzte: Nehmt euch die Zeit für diese Gespräche – und seid schamlos neugierig. Das Interview führte André Boße.
Zur Person
Dr. Astrid Seeberger, geboren 1949 in Schwäbisch Gmünd, zog es im Alter von 17 Jahren nach Schweden, wo sie zunächst Schriftstellerin werden wollte. Sie studierte Philosophie, Theater- und Filmwissenschaft an der Universität Stockholm und im Anschluss Medizin am Karolinska-Institut Stockholm. Im Laufe ihrer Karriere wurde Astrid Seeberger eine der führenden Nierenspezialistinnen Schwedens. Sie arbeitet als Oberärztin am Karolinska-Uni- Krankenhaus in Stockholm und ist eine international gefragte Fachreferentin für Nephrologie. „Schamlose Neugier – Von der Kunst des heilsamen Gesprächs“ ist ihr erstes Buch, es vereint literarische mit fachlichen Aspekten.
Frau Dr. Seeberger, welche Rolle spielt das gute Gespräch heute im Alltag eines Arztes?
Bei uns im Stockholmer Karolinska- Institut ist die Gesprächsführung ein wichtiger Teil der Ärzteausbildung. Als ich studierte, gab es ein solches Angebot noch nicht. Ich denke aber, dass es wichtig ist, junge Ärzte in dieser Hinsicht anzuleiten und auszubilden. Es gibt nämlich auf der anderen Seite den Trend, die Arbeit der Ärzte immer weiter zu rationalisieren und effizienter zu gestalten. Dadurch steigt auch für Ärzte die Taktung der Arbeit. Das ist bei uns in Schweden so, in Deutschland wohl sogar noch schlimmer. Es gibt Hausärzte, die treffen pro Tag 30 Patienten. Da ist es natürlich schwierig, wirklich schöne und gute Gespräche zu führen.
Die Medizintechnik entwickelt sich immer weiter. Warum bleibt da das Gespräch so wichtig?
Studien haben ergeben, dass trotz aller Technik noch immer 15 Prozent aller ärztlichen Diagnosen falsch sind. Diese viel zu hohe Quote liegt nicht daran, dass Ärzte über mangelhafte medizinische Kenntnisse verfügen. Die Ursache der vielen falschen Diagnosen ist die fehlende Zeit für gute Gespräche mit den Patienten. Zudem habe ich als Nierenspezialistin die Erfahrung gemacht, dass gerade chronisch kranke Patienten selbst nach richtigen Diagnosen den ärztlichen Rat nicht befolgen. Untersuchungen haben zum Beispiel gezeigt, dass die Hälfte aller chronischen Patienten entgegen der Anweisung des Arztes ihre Medikamente nur unregelmäßig oder sogar gar nicht einnehmen. Oft mit verhängnisvollen Konsequenzen. Es zeigt sich, dass man neben der Diagnose auch gute Gespräche führen muss, um die Patienten zur Mitarbeit bei der Behandlung zu motivieren.
„Von der Kunst des heilsamen Gespräches“ ist der Untertitel Ihres Buches. Kann denn jeder diese Kunst erlernen?
Um wirklich ein Meister des heilsamen Gesprächs zu werden, bedarf es schon einer Begabung. Aber jeder kann lernen, bessere Gespräche zu führen.
Welche Lernmethoden haben sich etabliert?
Wir schauen uns mit den jungen Ärzten exemplarisch schwierige Gespräche zwischen einem Arzt und einem Patienten an und analysieren diese Beispiele. Dann führen wir Rollenspiele durch, die wir auf Video aufzeichnen, um so später gute und weniger gute Aspekte herauszuarbeiten. Hinzu kommen wissenschaftliche Erkenntnisse zu Themen wie dem kooperativen Verhalten des Patienten im Rahmen der Therapie, seiner Motivation oder zu besonders schwierigen Diagnose- und Therapiegesprächen.
Welche weiteren Kenntnisse und Fähigkeiten sind wichtig, um als Arzt gute Gespräche führen zu können?
Bei unserer Arztausbildung spielen auch Kunst und Literatur eine große Rolle. Der russische Dichter und Nobelpreisträger Joseph Brodsky sagte einmal, dass das Lesen die Wahrnehmung schärfe. Schließlich schildert gute Literatur die Menschen nicht auf klischeehafte Art und Weise. Sie zeigt ihn mit allen seinen Widersprüchen und in aller Komplexität. Deshalb ist es wichtig, dass sich junge Ärzte mit Literatur beschäftigen. Sie ist der beste Lehrer dafür, im Beruf offen für die unterschiedlichsten Menschen zu sein – und genau auf diese Qualität kommt es als Arzt an.
Inwiefern hat diese Qualität konkreten Einfluss auf die Kompetenz, richtige Diagnosen zu stellen?
Unser Gehirn hat die Eigenschaft, alles, was wir sehen und erleben, in eine Kategorie einzuordnen. Für einen Arzt ist diese Eigenschaft gefährlich, weil er in Versuchung geführt wird, voreilige und damit nicht selten falsche Diagnosen zu stellen. Junge Ärzte müssen sich daher früh gegen dieses Schubladendenken rüsten – gerade in einer Zeit, in der von ihnen immer mehr Effizienz verlangt wird.
Sie sprechen im Titel Ihres Buches von „schamloser Neugier“ – ein Begriff, der eher negativ besetzt ist.
Ich meine damit nicht die schändliche Neugier der Boulevardjournalisten. Schamlose Neugier bedeutet für mich eine Neugier jenseits aller Wertungen und Verurteilungen. Der römische antike Schriftsteller Terenz hat geschrieben: „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.“ Wenn ich meinem Gegenüber im ärztlichen Gespräch diese Haltung offenbare, kann etwas sehr Merkwürdiges geschehen: Man erhält einen Einblick in das Innerste eines Menschen. Für eine gute Diagnose ist dieser Einblick Gold wert.
Lesetipp
Astrid Seeberger: Schamlose Neugier. Von der Kunst des heilsamen Gesprächs.
Integral 2010. ISBN 978-3778792339. 15,99 Euro