Lange Zeit blickten Patienten und die Ärzteschaft skeptisch auf die Möglichkeiten der Digitalisierung. Ist das sicher – und ist das gewünscht? COVID-19 ändert nun die Grundparameter. Ob im Kampf gegen die Pandemie oder im Umgang mit ihr: Digitale Methoden helfen der Medizin und den Menschen. Die junge Ärztegeneration nutzt diesen Rückenwind für Innovationen, Hilfsorganisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ engagieren sich für eine globale Technik- und Datengerechtigkeit. Von André Boße
Im Wortsinn bedeutet „Krise“ die Zuspitzung einer Situation, in der nun Entscheidungen gefordert sind. Der Mensch ist im Alltag bereits recht geübt darin, solche Entscheidungen zu treffen. Fußballclubs in der Krise werfen ihren Trainer raus, Parteien ihre Vorsitzende. Kriselnde Paare suchen nach professioneller Beratung, Patienten, die von einer Ärztin gesagt bekommen, sie bewegten sich viel zu wenig, ändern ihren Lebensstil. Die aktuelle Pandemie hat seit dem Frühjahr 2020 sämtliche Bereiche der Weltgesellschaft in den Krisenmodus versetzt: COVID-19 sorgt dafür, dass sich global Probleme und Herausforderungen zugespitzt haben. Mit der Folge, dass nun eben notwendige Entscheidungen anstehen. Dabei ist die Dichte dieser notwendigen Weichenstellungen im Gesundheitssystem besonders groß: Die Medizin stand schon in der allerersten Phase der Pandemie im Blickpunkt – und das wird so bleiben, auch dann noch, wenn SARS-CoV-2 eines Tages besiegt ist, sich aber neue Pandemien abzeichnen.
Gesundheit als Schutzschild für das System
Es ist daher anzunehmen, dass das Krisenjahr 2020 für das globale Gesundheitssystem einen dramatischen Wendepunkt darstellt: Es wandelt sich von einem System, in dem es verstärkt um Effizienz und Wertschöpfung ging, zu einem Sektor, der wie eine Art Schutzschild funktionieren soll, indem er mit seinen Strukturen, seiner Technik und seinem Know-how dafür Sorge trägt, dass Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in den Normalmodus zurückgelangen – und diesen nicht mehr aufgeben müssen, weil eine Pandemie zu Lockdowns führt. Gesundheit, das zeigt sich im Pandemiejahr 2020, ist die Prämisse dafür, dass die anderen Systeme laufen. Insbesondere der Kapitalismus.
Ländlicher Raum: Digitalisierung stützt Versorgung
Ein willkommener Effekt der Digitalisierung in der Medizin ist, dass mit IT-Innovationen und neuen Techniken das Problem der Unterversorgung ländlicher Gebiete zumindest teilweise gelöst werden kann. So gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Apps, mit denen Patienten ihre chronischen Krankheiten zu einem Teil selbst überwachen sowie die Daten ihrem Arzt zukommen lassen können, ohne in die Praxis zu müssen. Apps dieser Art gibt es für Asthma- oder Herzpatienten, besonders hilfreich sind sie auch im Falle einer Ansteckung mit SARS-CoV-2, da sie Daten erheben, wie sich die Infektion entwickelt und wann zum Beispiel bei der Sauerstoffsättigung des Blues kritischere Punkte erreicht werden.
In dieser Erkenntnis liegt der Grund für den Paradigmenwechsel: Man wird aufhören, weite Teile des Gesundheitssystems zu kapitalisieren, weil sich zeigt, dass dadurch in einem Notfall wie diese Pandemie ihn darstellt die Schlagkraft des Systems leidet. Daher geht es ab jetzt nicht mehr ausschließlich darum, das Gesundheitssystem nach Maßgaben der Effizienz und der Wertschöpfung zu betrachten. Entscheidend ist die Gewissheit, dass es funktioniert und dass es Stress aushält. Dass genügend Personal und Ressourcen zu Verfügung stehen. Und dass es auf dem neuesten technischen Stand arbeitet.
Damit dieser Anspruch erfüllt werden kann, bedarf es einiger Änderungen, wobei zwei Entwicklungen besonders signifikant sind. Zum einen benötigt das Gesundheitssystem die finanziellen Mittel: In Zukunft kann es sich die Politik kaum noch leisten, das Sparen zum obersten Gebot zu machen. Doch Geld alleine reicht nicht. Sinnvoll sind Investitionen dann, wenn sie mit einer guten Personalplanung sowie mit technischen Innovationen einhergehen. Wenn also diese Krise zu einer Entscheidung führt, dann zu der, die Digitalisierung im Gesundheitsbereich voranzutreiben endlich ihre Möglichkeiten umzusetzen.
COVID-19 sorgt für Digitalisierungsboost
Die Bertelsmann-Stiftung hat in der Zukunftsstudie „2035+: Leben, Arbeit, Bildung“ untersucht, welche zentralen Lebensbereiche in den kommenden Jahren besonders stark von der Künstlichen Intelligenz (KI), einer der Kerntechnologien der Digitalisierung, beeinflusst werden. Das Fazit der Befragung von Führungskräften aus den Bereichen Technik und Digitalisierung: „85 Prozent der befragten ExpertInnen gehen von einem zunehmenden Einsatz von KI-Technologie im Gesundheitssektor aus.“ Kein anderer Bereich kommt auf so hohe Werte, der Digitalisierunsboost wird in den Sektoren Healthcare und Lifescience als besonders stark eingeschätzt. Der Anteil derjenigen, die nicht an einen solchen Boost glauben, ist mit rund zwei Prozent äußerst gering.
Interessant ist, dass die Patienten diese Zustimmungswerte noch toppen, im Zuge der Pandemie scheint die Skepsis gegenüber digitalen Lösungen im Gesundheitssystem abgenommen zu haben. Nach einer Umfrage von Bitkom, dem Branchenverband der Digitalwirtschaft, sprechen sich 93 Prozent der Befragten für einen Ausbau der digitalen Gesundheitsversorgung aus. 62 Prozent sind der Meinung, dass die ärztliche Beratung per Chat weiter ausgebaut werden sollte, knapp 60 Prozent geben an, Video-Sprechstunden sollten standardmäßig verfügbar sein – und nicht nur in der Krisenzeit einer Pandemie. Gut jeder Zweite (53 Prozent) ist zudem der Ansicht, dass sich mithilfe digitaler Technologien der Kampf gegen solche Krisen erfolgreicher führen lasse. Dieser Boost sorge dafür, dass Digitalisierung der Medizin und des Gesundheitswesens mittlerweile in vollem Gange seien, sagt Bitkom-Präsident Achim Berg. „Elektronische Patientenakte, E-Rezept und die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sind schon bald für die Versicherten verfügbar. Zugleich bauen Ärzte telemedizinische Angebote wie Videosprechstunden aus, Start-ups entwickeln innovative Angebote, die die digitale Gesundheitsversorgung in Deutschland voranbringen. Diese Entwicklung wurde durch die Corona- Pandemie noch einmal beschleunigt und muss jetzt konsequent fortgesetzt werden“
Lange Liste digitaler Innovationen
Wie die Unterstützung digitaler Tools konkret aussehen kann, fasst der Verband Bitkom in der stetig wachsenden Liste „Digitale Lösungen in der Gesundheitsversorgung bei Covid- 19“ zusammen: Telemonitoring von Patienten, E-Learning- Methoden für medizinisches Personal, digitale Signaturen für E-Rezepte, Cyberschutz und Datensicherheit für Gesundheitseinrichtungen, Data-Mining-Methoden für gigantische Banken von Patientendaten, Tools, die in Notfallsituationen aus Hotelzimmern temporäre Krankenstationen machen, Schutzmasken und anderes Material aus dem 3D-Drucker, Wearables und Apps, die Symptome diagnostizieren oder Kontakte prüfen – die Vielfalt der Innovationen, die schon heute entwickelt, getestet oder sich bereits am Markt bewähren, ist groß. Nicht immer läuft alles reibungslos, wie auch die Corona-App zeigt. Aber die ersten Schritte sind gemacht, zumal die Bundesregierung mit ihren Richtlinien und der Gesetzgebung diesen Weg forciert.
Gerade Start-ups mit digitalen Innovationen hatten es im Gesundheits bereich hierzulande bisher nicht leicht. Sie sind wegen der strengen regulatorischen Rahmenbedingungen und datenschutzrechtlichen Bedenken oftmals vor hohe Hürden gestellt.
Interessant: Aktiv ist in diesem Bereich neben den großen IT-Konzernen auch eine Reihe von jungen Start-ups, die Know-how aus der Medizin mit IT-Wissen kombinieren. „Gerade Start-ups mit digitalen Innovationen hatten es im Gesundheitsbereich hierzulande bisher nicht leicht. Sie sind wegen der strengen regulatorischen Rahmenbedingungen und datenschutzrechtlichen Bedenken oftmals vor hohe Hürden gestellt“, sagt Michael Burkhart, Partner bei der Unternehmensberatung PwC und dort Leiter des Bereichs Gesundheitswirtschaft. Das habe durchaus eine gewisse Berechtigung: „Schließlich haben wir es im Gesundheitswesen mit hochsensiblen, persönlichen Daten zu tun. Doch während des Lockdowns mussten Ärzte und Patienten notgedrungen auf Video-Sprechstunden ausweichen und haben gelernt, solche Möglichkeiten zu nutzen und diese fest in den Arbeitsalltag zu integrieren. Ich gehe davon aus, dass sie das auch in Zukunft tun werden, wenn es zum Beispiel um die Versorgung im ländlichen Raum geht.“ Mit einem Healthcare-Barometer haben die Berater von PwC versucht, die Stimmung bei den Patienten gegenüber diesen digitalen Tools auszuloten, Burkharts Fazit: „Die Deutschen stehen den Neuerungen nicht euphorisch, aber überwiegend positiv gegenüber.“ Jedoch, relativiert Michael Burkhart, wurde dieses Stimmungsbild Ende 2019 eingeholt. „Ich könnte mir denken, dass die Offenheit gegenüber digitalen Angeboten nach den Erfahrungen der vergangenen Monate deutlich zugenommen hat.“
Globale Gerechtigkeit beim Zugang zur Technik
Was insbesondere der Ärzteschaft wichtig ist: Von den neuen Möglichkeiten des digitalisierten Gesundheitswesens soll nicht nur das deutsche Gesundheitssystem profitieren, auch auf globaler Ebene wollen Ärztinnen und Ärzte diese Tools im Sinne der Menschen nutzen. Wenn dem Virus Grenzen egal sind, dann soll das auch für medizinisches Know-how gelten. Die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ hat sich Ende Mai an einem Aufruf beteiligt, um mit Blick auf die Bekämpfung der Pandemie weltweit für einen gerechten Zugang zu Medikamenten und Impfstoffen, aber eben auch zu Technologien zu sorgen. Der Aufruf fordert das Teilen von Wissen, geistigem Eigentum und Daten. „Es bedarf durchsetzbarer Maßnahmen und einer effektiven Umsetzung, um den Zugang für alle Menschen zu bestehenden und künftigen Technologien zur Bekämpfung von Covid-19 zu gewährleisten“, sagt Christos Christou, Internationaler Präsident der medizinischen Hilfsorganisation, die in mehr als 70 Ländern die Bekämpfung der Covid-19-Pandemie unterstützt. „Jetzt ist nicht die Zeit, um zuzulassen, dass Pharmakonzerne business as usual betreiben und kurzsichtiger Nationalismus von Regierungen einer globalen Zusammenarbeit bei der Entwicklung von medizinischen Instrumenten zur Bekämpfung dieser Pandemie im Wege stehen. Covid-19 ist so lange nicht vorbei, bis es für alle vorbei ist.“
Politische Schritte: „Digitale Gesundheit 2025“
Mit einer Reihe von politischen Impulsen und Gesetzesänderungen hat das Bundesgesundheitsministerium in den vergangenen Monaten die Weichen für eine fortschreitende Digitalisierung des Gesundheitswesens gestellt. So hat die Regierung die elektronische Patientenakte sowie elektronische Rezepte eingeführt, der Weg für Gesundheits-Apps ist geebnet, ein Forschungsdatenzentrum soll die Ergebnisse medizinischer Forschung besser bündeln. Seit 2019 gibt es zudem einen „Health Innovation Hub“, der als Thinktank die Medizin mit der Digitalszene verbindet, die Initiative „Zukunftsregion Digitale Gesundheit“ dient als Feld, in dem digitale Lösungen in der Praxis Anwendung finden, um so neue Erkenntnisse zu gewinnen.