1999 eröffnete im Klinikum Essen Deutschlands erste Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin. Mit 20 Betten – und Gegenwind von klassischen Medizinern. Direktor ist von Beginn an Prof. Dr. Gustav Dobos, der wichtigste Wegbereiter der wissenschaftsbasierten Naturheilkunde in Deutschland. Im Gespräch erzählt der Mediziner, warum die Kunst des Zuhörens von so großer Bedeutung ist und warum er sich wünscht, die Naturheilkunde weitaus stärker in Therapien zu verankern. Die Fragen stellte André Boße.
Zur Person
Professor Dr. med. Gustav J. Dobos ist Direktor der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin, die 1999 an den Kliniken Essen-Mitte als Modelleinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen etabliert wurde. Ziel ist es, optimale Behandlungsansätze aus konventioneller Medizin und wissenschaftlich evaluierter Naturheilkunde zu kombinieren. Der 63-Jährige hat zudem an der Universität Duisburg-Essen den 2004 etablierten Stiftungslehrstuhl für Naturheilkunde der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung inne.
Prof. Dr. Dobos, es gibt ein Interview mit der TV-Moderatorin Bettina Böttinger, in dem sie davon berichtet, wie sie sich an Sie wandte und erzählt, geholfen hätten Sie schon alleine deshalb, weil Sie ihr zugehört haben. Wie wichtig ist die Kunst des Zuhörens?
Zuhören ist ein ganz wichtiger Teil von Diagnose und Therapie, denn als Ärzte behandeln wir die Menschen und nicht die Krankheit. Die individuelle Art, wie Ihr Körper auf Belastungen, aber auch auf Therapien reagiert, aber auch Ihre Lebensumstände und Ihre Biografie geben wichtige Hinweise auf die Ursachen ihrer Symptome und die bestmögliche Therapie.
Die Taktung in Praxen und Kliniken ist hoch. Bleibt überhaupt noch die Zeit zum Zuhören?
Ja, es stimmt, dass dem Zuhören im Alltag des Gesundheitssystems kaum mehr Raum gegeben wird, wenn die durchschnittliche Gesprächsdauer in einer Praxis zum Beispiel sieben Minuten beträgt. Aber es ist wichtig, sich diesen Freiraum dennoch zu schaffen.
Wie wird man ein guter Zuhörer?
Man muss echtes Interesse für den Menschen mitbringen. Man sollte die Patienten nicht vorschnell unterbrechen, weil man glaubt, das „Ende der Geschichte“ bereits zu kennen. Man muss sich auch bewusstmachen, dass der Patient eine andere Perspektive einnimmt als die eigene. Es gibt Kurse für Ärztekommunikation, zum Beispiel für sogenannte Breaking Bad News…
… also die Bekanntgabe einer schlechten Diagnose.
Hier kann man Gesprächsführungen üben. Hilfreich ist es aber auch, als Arzt regelmäßig zu meditieren oder eine Achtsamkeitspraxis zu pflegen. Dabei wird einem deutlich, dass es mehr gibt als die eigenen momentanen Gedanken und Gefühle.
Warum ist das Zuhören gerade für Ihren Bereich der Naturheilkunde bedeutsam?
Naturheilkunde zielt neben den Ursachen von Krankheit sehr stark auf die Gesundheitsressourcen des Patienten ab. Sie setzt auf die Selbstregulation des Körpers, die mit Hilfe der Naturheilkunde wieder in Gang kommen soll. Dafür ist es wichtig, die individuellen Gesundheitsressourcen – zum Beispiel soziale Einbindung oder eine Lieblingsbewegungsform wie etwa Tanzen – herauszufinden. Und das geht nur im Gespräch mit dem Patienten.
Es scheint mit Blick auf die Naturheilkunde nur zwei Meinungen zu geben: Die einen sagen, das sei die Rettung. Die anderen sagen, das bringt doch sowieso nichts. Welchen differenzierten Blick würden Sie sich auf die Naturheilkunde wünschen?
Einen fairen Blick, wie ich ihn mir auch für die konventionelle Medizin wünsche. Naturheilkunde ist keinesfalls die einzige Rettung, aber sie bietet sehr erfolgreiche Lösungsansätze, vor allem bei chronischen Krankheiten. Dort ist es eher so, dass die übliche Medikamentenmedizin irgendwann ausgereizt ist und langfristig mit Nebenwirkungen einhergeht.
„Wirkung der Naturheilkunde“
Seit bald 30 Jahren gibt es eine Reihe von Studien zu möglichen Wirkungen der Naturheilkunde. Diese Forschung zur modernen Naturheilkunde ist evidenzbasiert und bezieht auch Fragen des medizinischen Settings sowie den Placebo-Effekt ein. Ein Teil dieser Forschungsergebnisse ist bereits in Leitlinien des Fachgebiets eingeflossen, sagt Dobos. „Aber die verantwortlichen Kollegen ignorieren die Evidenz aus dem Bereich der Naturheilkunde oder picken sich vor allem das heraus, was ihre Disziplin nicht bedroht“, klagt er. Häufig seien das Aspekte wie Lebensstiländerungen, Entspannung oder Ernährungsumstellungen.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Nehmen Sie Schmerzkrankheiten: Zu uns in die Klinik kommen Migränepatienten, bei denen nach herkömmlicher Ansicht das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Sie nehmen Triptane, das stärkste Migränemittel, das uns derzeit zur Verfügung steht – das aber den Nachteil hat, dass es bei häufigen Dosissteigerungen zu Herz- Kreislauf-Risiken sowie zu weiteren, medikamentenbedingten Kopfschmerzen führt. Unsere Patienten nehmen häufig bereits das Doppelte der erlaubten Dosis ein. Wir machen mit ihnen eine Triptan-Entwöhnung und üben ein Stufenschema ein, das es ihnen ermöglicht, mit Anfällen anders umzugehen. Vor allem aber lernen sie, achtsamer gegenüber den Vorzeichen und ihren persönlichen Belastungen zu werden – das ist notwendig, damit die Naturheilkunde helfen kann.
Ein weiteres Beispiel ist die Therapie mit Opiaten, die bei frischoperierten oder Tumorpatienten zur Kurzzeittherapie unerlässlich ist, die aber bei der falschen Indikation, wie beispielsweise einem chronischen Rückenschmerz, zur Entwicklung einer Sucht führen kann. Die Folgen davon können wir in den USA beobachten, wo ein falscher oder übermäßiger Gebrauch zu einer Krise führte, an der aktuell 40.000 Schmerzpatienten pro Jahr versterben.
Welche Entwicklung wird die Naturheilkunde mit Blick auf den demografischen Wandel nehmen?
Die Prävention von Krankheiten wird immer wichtiger, aber auch die sogenannte Selbstwirksamkeit: Wir können uns nicht mehr leisten, Therapien zu verordnen, die von den Patienten nicht befolgt werden, weil sie nicht davon überzeugt sind. Das erkennen Sie unter anderem an der mangelnden Einhaltung bei der Einnahme auch von wichtigen Medikamenten. Wir müssen verstärkt dafür sorgen, dass die Patienten wieder ein Gefühl für ihren Körper entwickeln, für das, was ihnen guttut. Dabei hilft uns die „Mind-Body-Medizin“, die Gesundheitspsychologie, Meditationsforschung und Entspannungstechniken einbringt.
Eine Studie konnte außerdem zeigen, dass die Arbeitszufriedenheit von Ärzten mit naturheilkundlichem Schwerpunkt deutlich höher war als im Vergleichskollektiv.
Wie beurteilen Sie aktuell die Situation in der Forschung in Ihrem Gebiet, wie innovativ sind die forschenden Mediziner?
Geforscht wird sehr viel in den USA, aber auch in China etablieren sich Zentren. In Deutschland gab es bisher nur ein einziges Projekt, das öffentlich mitgefördert wurde, dazu zwei kassenfinanzierte Akupunkturstudien. Insgesamt ist unsere Forschung daher noch vollständig von visionären Stiftungen abhängig. Das muss sich angesichts des Beitrags dringend ändern, den Naturheilkunde und „Mind-Body-Medizin“ zur Gesundheitsversorgung leisten.
Wie steht es um den Arbeitsmarkt für junge Mediziner, die Ihre Karriere im Bereich der Naturheilkunde starten wollen?
Das Interesse junger, aber auch erfahrener Mediziner an der Naturheilkunde ist sehr groß. Trotz des grassierenden Ärztemangels bewerben sich viele Ärzte bei uns initiativ. Retrospektiv betrachtet haben die bei uns in den vergangenen 20 Jahren ausgebildeten Ärzte beruflich gute Karrieren absolviert – vom universitären Lehrstuhl bis zur gut gehenden Praxis in Düsseldorf. Eine Studie konnte außerdem zeigen, dass die Arbeitszufriedenheit von Ärzten mit naturheilkundlichem Schwerpunkt deutlich höher war als im Vergleichskollektiv. Was mich persönlich sehr freut ist, dass unsere Assistenten eine Vielzahl von Stellenangeboten bekommen, weil der Stellenwert der Naturheilkunde in konventionellen Einrichtungen ständig steigt. Das war zu meiner Assistentenzeit noch ganz anders.
Ihre ersten Erfahrungen mit der Naturheilkunde haben Sie in China gesammelt, was hat Ihnen an der Traditionellen Chinesischen Medizin besonders imponiert?
Interessiert hatte mich die asiatische Medizin schon immer. Zunächst war ich in China aber eher enttäuscht, mit wie wenig Empathie die traditionellen Behandlungen abliefen. Als ich dann aber mitbekam, wie ein Mann, der nach einem psychischen Trauma die Sprache verloren hatte und monatelang „sprachlos“ war, nach 20 Minuten Akupunktur mit vier Nadeln wieder zu reden begann, hatte ich dieses ganz starke Aha-Erlebnis, dass Medizin mehr ist als eine bestimmte Therapie. Bei uns hätte dieser Mann vermutlich Psychopharmaka verschrieben bekommen.
Dobos ist Autor verschiedener Bücher. Kürzlich erschienen ist sein Buch: „Endlich schmerzfrei und wieder gut leben“. (Scorpio Verlag, 2018)