Wie viel wissen wir heute über die vielen verschiedenen Krebserkrankungen? Und welche neuen Ansätze gibt es, die Chancen für Patienten zu verbessern? Prof. Dr. Dr. Guy Ungerechts ist leitender Oberarzt am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg. Im Gespräch verrät er, wie Viren im Kampf gegen den Krebs helfen können und warum er die Doppelbelastung aus Klinikalltag und Krebsforschung für sich positiv bewertet. Die Fragen stellte André Bosse.
Zur Person
Prof. Dr. Dr. Guy Ungerechts (46) ist leitender Oberarzt am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg und leitet die Klinische Kooperationseinheit Virotherapie am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). In präklinischen Studien konnten Ungerechts und sein Team um Laborleiterin Dr. Dr. Christine Engeland erfolgreich nachweisen, dass onkolytische Masernviren, die von Impfstammviren abgeleitet wurden, gezielt Krebszellen vernichten können. Darüber hinaus ist Prof. Ungerechts außerordentlicher Professor an der University of Ottawa und Affiliated Investigator am Ottawa Hospital Research Institute (OHRI) in Kanada.
Herr Prof. Ungerechts, Krebs gilt heute als Volkskrankheit. Müsste man beim Krebs aber nicht vielmehr von einer ganzen Reihe verschiedener Volkskrankheiten sprechen?
Das ist richtig, denn den einen Krebs gibt es im Grunde gar nicht. Wir reden vielmehr von Hunderten sehr unterschiedlichen Erkrankungen, die jeweils nach ihren eigenen Therapiekonzepten verlangen. Gemeinsam haben alle Krebserkrankungen eine maligne Transformation von Zellen. Jedoch entsteht diese bei den verschiedenen Krebsarten aus unterschiedlichen Ursprüngen und beinhaltet zum Teil auch ganz unterschiedliche Mechanismen.
Was zur Folge hat, dass die Frage, wann Krebs heilbar sein wird, wenig zielführend ist.
Periodisch und gerne dann, wenn sich neue Therapieansätze durchsetzen, vermelden die Medien hoffnungsvoll, der große Durchbruch sei gelungen oder stehe kurz bevor. Wir müssen mit solchen Meldungen aber vorsichtig sein. Dafür ist die Erkrankung eben einfach zu heterogen.
Was weiß die moderne Medizin denn heute über die verschiedenen Krebserkrankungen? Kommen die Ärzte mit großen Schritten voran oder tappt man in vielen Fällen noch im Dunkeln, was die Entstehung und die Therapie betrifft?
Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass das Wissen rapide zunimmt, übrigens nicht nur in der Krebsforschung, sondern in vielen medizinischen Bereichen. Das entscheidende Stichwort ist dabei die Vernetzung. Relevante Informationen sind heute deutlich schneller greifbar als noch vor einigen Jahren. Dadurch ergibt sich wiederum die Herausforderung, aus der Fülle an Informationen diejenigen herauszugreifen, die wirklich von Bedeutung sind.
Woraus ergibt sich denn diese große Informationsmenge?
Eben aus der Heterogenität der Krebserkrankungen. Im Grunde bringt jeder Patient eine individuelle Geschichte mit, er besitzt sozusagen eine eigene Krebsidentität. Diese hängt von sehr vielen Faktoren ab, sodass es wichtig ist, dass die medizinischen Teams interdisziplinär zusammenarbeiten – und zwar nicht nur der Chirurg mit dem Onkologen: Gerade Bioinformatiker und Datenspezialisten sind wichtig, damit die Menge an Daten begreifbar und nutzbar wird.
Relevante Informationen sind heute deutlich schneller greifbar als noch vor einigen Jahren. dadurch ergibt sich wiederum die Herausforderung, aus der Fülle an Informationen diejenigen herauszugreifen, die wirklich von Bedeutung sind.
Damit wird die Krebsforschung zu einem echten Digitalthema.
Aus diesem Grund gibt es Konsortien wie zum Beispiel „Cancer Core Europe“, die das Ziel haben, Daten zu sammeln und so aufzubereiten, dass sie in der Medizin optimal im Sinne des Patienten eingesetzt werden können.
Am NCT forschen Sie an der Virotherapie und machen dabei beachtliche Fortschritte. Wie genau können Viren dabei helfen, bestimmte Krebserkrankungen zu besiegen?
Die Idee basiert auf der Beobachtung, dass bestimmte Viren, die einen Krebspatienten infizieren, einen günstigen Einfluss auf den Verlauf der Tumorentwicklung nehmen können. Grund dafür ist, dass sich eine Reihe von Viren – darunter Masern- oder Pockenviren – besonders gut und gerne in maligne transformierten Zellen vermehren. Vor allem deshalb, weil diese Viren in gesunden Zellen stärker bekämpft werden. Von Natur aus bietet das Krebsgewebe also besonders gute Wirtszellen für Viren. Daraus folgen zwei Ansätze, erstens können die Viren durch eine Infektion des Tumors die Zahl der Krebszellen selbst reduzieren. Vielleicht noch bedeutsamer ist der zweite Effekt, dass durch die Infektion des Krebsgewebes dort tumorspezifische Antigene sehr effektiv präsentiert werden. Noch wissen wir recht wenig über diese Antigene, was wir aber erkennen, ist, dass durch ihre Entstehung im Kontext der viralen Infektion das Immunsystem mit Blick auf den Tumor wieder aufmerksamer wird.
Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass das Wissen rapide zunimmt, übrigens nicht nur in der Krebsforschung, sondern in vielen medizinischen Bereichen.
Die Antigene alarmieren sozusagen das Immunsystem.
Genau, sie wecken es auf, wenn man so will. Es ist ja so, dass in einem menschlichen Körper täglich maligne Zellen entstehen, die nur deshalb nicht zu einer manifesten Tumorerkrankung auswachsen, weil sie vom Immunsystem erfolgreich erkannt und bekämpft werden. Bei Krebspatienten ist also eine Toleranz eingetreten: Bei ihnen toleriert das Immunsystem die Vermehrung von Krebszellen. Die durch die Viren hervorgerufenen Antigene sind möglicherweise in der Lage, diese Toleranz zu durchbrechen, sodass das Immunsystem den Kampf gegen die malignen Zellen wieder erfolgreich führen kann.
Was zeichnet die Viren aus, die Sie für diese Therapie nutzen?
Wir arbeiten im Grunde mit einem onkolytischen Masernvirus, das auch bei der Masernimpfung eingesetzt wird. Wir gehen aber noch weiter, in dem wir die Viren im Labor gentechnisch verändern. Wir pflanzen zum Beispiel das Erbgut bestimmter sogenannter Checkpoint-Antikörper ein, die nicht den Krebs direkt bekämpfen, sondern Immunzellen des Patienten aktivieren, die dann besonders effektiv gegen den Tumor ankämpfen. Wobei es dabei die infizierten Krebszellen selbst sind, die dieses Erbgut auslesen und damit dafür sorgen, dass sich die Antikörper genau dort verbreiten, wo sie im Sinne des Patienten wirken. Ziel dieser Idee ist es also, das Immunsystem immer weiter anzustacheln. Wenn man so will versuchen wir, dafür zu sorgen, dass der Fuß von der Bremse genommen wird.
Die Grundannahme lautet also: Der menschliche Körper ist selbst in der Lage, den Krebs zu besiegen.
Mit Blick auf bestimmte Krebserkrankungen, ja. Eine positive Folge kann sein, dass die Therapie weniger toxisch ist. Die Viren gehen gezielt in das maligne Gewebe. Und nur dort werden die Antikörper oder andere Immunmodulatoren dann gebildet.
Was mir hilft, ist sowohl in der Klinik als auch in der Forschung tätig zu sein. Ich will weder das eine noch das andere missen.
Als Onkologe und Krebsforscher werden Sie beide Seiten kennen: Gescheiterte Therapien bei Patienten und unheilbare Krebsarten auf der einen Seite, die Hoffnung auf neue Ansätze auf der anderen. Wie gelingt Ihnen die Balance?
Man sollte sich als Einsteiger keine falschen Vorstellungen machen: Die Arbeit und die Erfahrungen im Bereich der medizinischen Onkologie bleiben nicht einfach im Kittel hängen. Im Kontakt mit den Patienten geht es sehr häufig um die ganz existenziellen Dinge, nicht wenige von ihnen werden in wenigen Wochen versterben. Es ist also ein Beruf, der zwangsläufig mit der Periode am Ende eines Lebens zu tun hat. Das ist in anderen medizinischen Bereichen zum Teil deutlich anders. Deshalb ist es wichtig, sich vorab zu überlegen: Ist das was für mich? Wobei man diese Frage wahrscheinlich erst dann beantworten kann, wenn man eine Zeit lang in diesem Bereich tätig gewesen ist. Das PJ im Studium gibt zum Beispiel eine erste Ahnung, danach sollte man unbedingt in sich hineinhorchen.
Was hören Sie, wenn Sie in sich hineinhorchen?
Was mir hilft, ist sowohl in der Klinik als auch in der Forschung tätig zu sein. Ich will weder das eine noch das andere missen. Klar, es handelt sich um eine Doppelbelastung, und es ist anstrengend, nach einem Tag in der Klinik abends noch ein Laborseminar zu geben oder an einem Paper zu arbeiten. Ich persönlich empfinde das jedoch als positiv. Ich denke, ich hätte größere Probleme mit der klinischen Onkologie, wenn ich nicht regelmäßig in der Forschung das Gefühl bekommen würde, an potenziell positiven Veränderungen mitzuarbeiten. Mit ganz kleinen Schritten arbeiten wir im Labor daran, die Situation zumindest einiger Patienten in der Zukunft ein bisschen besser zu machen. Gelingt uns das auch nur bei einem oder zweien, hat sich die Arbeit schon gelohnt. Diese Perspektive gibt Hoffnung und Kraft, was mir im klinischen Alltag sehr hilft und die vermeintliche Doppelbelastung für mich mehr als aufwiegt.
Nationales Centrum für Tumorerkrankungen
Das NTC Heidelberg ist eine gemeinsame Einrichtung des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD), des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg und der Deutschen Krebshilfe. Ziel des NCT ist es, vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung möglichst schnell in die Klinik zu übertragen. Dieses gilt sowohl für die Diagnose als auch die Behandlung sowie in der Nachsorge oder der Prävention. In der Tumorambulanz profitieren die Patienten von einem individuellen Therapieplan, den fachübergreifende Expertenrunden, die sogenannten Tumorboards, erstellen. Die Teilnahme an klinischen Studien eröffnet den Zugang zu innovativen Therapien.
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