Weltweit steht COVID-19 im Fokus der Medizin. Das ist verständlich, jedoch gibt es globale Phänomene, die für weitaus mehr Krankheits- und Todesfälle verantwortlich sind – und das Jahr für Jahr. Der medizinische Forscher Prof. Dr. Thomas Münzel von der Uni Mainz schaut dabei besonders auf die Gefahren für das Herz-Kreislauf-System und widmet sich Risikofaktoren, die so allgegenwärtig sind, dass ihre negativen Wirkungen häufig verdrängt oder vernachlässigt werden. Zum Beispiel Feinstaub, der nach neuesten Daten auch ein wichtiger Co-Faktor in Bezug auf die COVID-Mortalität ist. Das Interview führte André Bosse.
Zur Person
Prof. Dr. Thomas Münzel ist Professor für Kardiologie und Direktor des Zentrums für Kardiologie I an der Johannes-Gutenberg- Universität Mainz. Vor seinem Studium absolvierte er eine komplette Ausbildung als Krankenpfleger. Nach seinem Medizinstudium an der Universität Freiburg war er dort ab 1985 erst als Stipendiat, dann als wissenschaftlicher Assistent tätig. Mitte der 1990er-Jahre absolvierte er ein Habilitandenstipendium in Atlanta, von 1995 bis 2004 war er Oberarzt am Uniklinikum Hamburg bei Professor Thomas Meinertz. 2004 erhielt er eine Professur für Innere Medizin an der Uni Mainz. Thomas Münzel ist Mitglied des Vorstands der Stiftung Mainzer Herz und Mitinitiator der Gutenberg- Herz-Studie sowie des Centrums für Thrombose und Hämostase. Zu seinen wissenschaftlichen Schwerpunkten gehört die Forschung in den Bereichen Lärm, Luftverschmutzung sowie ihre Auswirkungen auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Herr Professor Münzel, Ihr Forschungskollege Jos Lelieveld spricht im Zuge Ihrer gemeinsamen Studie zu den Auswirkungen der Feinstaubbelastung von einer „Luftverschmutzungspandemie“. Warum erzeugt diese Pandemie nicht ansatzweise die Wahrnehmung wie das Corona-Virus?
Gute Frage. Wenn man die absoluten Exzess-Todesfälle betrachtet …
… also die mit Feinstaub assoziiert werden können …
… genau, dann sterben nach den Berechnungen von Jos Lelieveld und Richard Burnett pro Jahr weltweit knapp 9 Millionen Menschen an den Folgen von Feinstaub, wobei man davon ausgehen kann, dass rund 60 bis 70 Prozent dieser Todesfälle durch Feinstaub aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen geschehen.
Das sind enorme Zahlen – und doch wird der Kampf gegen den Feinstaub nur sehr zögerlich geführt. Warum ist das so?
Das grundlegende Problem ist, dass auch viele Kardiologen die Dimensionen des Problems mit dem Feinstaub noch nicht erfasst haben. Wie gesagt, 9 Millionen Menschen sterben aufgrund von Feinstaub, an den Folgen des Rauchens versterben pro Jahr geschätzt 7,2 Millionen Menschen. Hier zeigt sich, warum die Kardiologischen Gesellschaften in Europa, das ist die ESC, und in den USA, also die AHA/ACC, den Feinstaub endlich als Herz-Kreislauf-Risikofaktor anerkennen müssen. Wobei es sich beim Feinstaub um einen Risikofaktor handelt, der weder durch Ärzte noch durch Patienten beeinflusst werden kann. Mit dem Rauchen kann ich aufhören, dem Feinstaub bin ich ausgesetzt. Eine Verbesserung kann nur die Politik in Gang setzen, indem sie Grenzwerte für Feinstaubkonzentrationen festlegt, die uns vor diesen gesundheitlichen Nebenwirkungen schützen.
Wie beurteilen Sie die aktuellen Grenzwerte?
Als viel zu hoch! In Europa liegen sie bei 25 Mikrogramm pro Kubikmeter. Im Vergleich dazu liegt er in den USA bei 12, in Australien bei 8 Mikrogramm pro Kubikmeter. Die WHO gibt einen Grenzwert von 10 Mikrogramm pro Kubikmeter vor, die Grenzwerte bei uns in Europa liegen also zweieinhalbmal so hoch. Das ist eigentlich ein Skandal! Nach Angaben der WHO leben 91 Prozent der Weltbevölkerung in einer Region, die über dem in meinen Augen passenden Grenzwert von 10 Mikrogramm pro Kubikmeter liegt. Würde man diesen Grenzwert weltweit implementieren, könnte man 50 Prozent der durch Feinstaub bedingten Todesfälle vermeiden.
Klar ist: Lärm macht krank – und muss wie der Feinstaub endlich als Herz-Kreislauf-Risikofaktor anerkannt werden.
Als Kardiologe warnen Sie vor negativen Einflüssen auf die Gesundheit von Menschen, Ihre Gegenspieler sind dabei häufig die Lobbyisten, sei es aus der Tabak- oder Autoindustrie. Welche Kompetenzen sind wichtig, um für diese Debatten gerüstet zu sein?
Was Sie beschreiben, ist tatsächlich ein extrem großes Problem. Wir verstehen uns daher als Forscher, die nicht nur feststellen, wie zum Beispiel Lärm unser Herz-Kreislauf-System schädigt, sondern als Forscher, die diese Botschaft auch nach außen tragen, um über die negativen Folgen von Lärm auf unser Herz-Kreislauf-System aufzuklären und damit eine Änderung zu bewirken. Denn klar ist: Lärm macht krank – und muss wie der Feinstaub endlich als Herz-Kreislauf-Risikofaktor anerkannt werden. Leider streifen die Leitlinien zur Prävention das Thema Lärm nur am Rande, es kommt in der Besprechung der wichtigen Risikofaktoren viel zu kurz. Das muss sich ändern, daran arbeiten wir – und dafür braucht man als Forscher einen langen Atem – und viele Daten.
Was sind Ihre Kernforderungen?
Experteninnen und Experten aus dem Bereich Luftverschmutzung müssen eingebunden werden, wenn es darum geht, die Leitlinien zur Prävention festzuschreiben. Nur so kann es gelingen, dass die richtigen Empfehlungen an die Kardiologen weitergegeben werden.
Viele der kardiologischen Krankheiten, mit denen Sie es zu tun haben, sind Krankheiten einer Wohlstandsgesellschaft.
Ja, und da stoßen wir gleich auf die klassischen Risikofaktoren: hohes Cholesterin, Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Rauchen. Heute aber kommt hinzu, dass verstärkt neue Risikofaktoren für die Entwicklung einer koronaren Herzerkrankung erkennbar werden. Wobei diese Risikofaktoren meistens gekoppelt sind. Bleiben wir beim Feinstaub und Lärm: Dort, wo Sie Straßen- oder Fluglärm haben, leiden die Menschen auch an der Luftverschmutzung und Feinstaubbelastung. Wir müssen die Folgen dieser Lärmbelästigung unbedingt auch sozioökonomisch betrachten: Studien beziffern den Schaden auf bis zu 1 Billion Euro. Zum Vergleich: Die sozioökomischen Kosten beim Alkohol mit 50 bis 120 Milliarden Euro sowie beim Rauchen mit 544 Milliarden Euro sind deutlich geringer.
Ich sehe die Universitätsmedizin als eine zukunftsweisende Arbeitsstelle für Physician Scientists, die zum einen ihre klinischen Aufgaben erfüllen, zum anderen in der Lage sind, Herausragendes in der Forschung zu leisten.
Der Tabakkonsum ist weltweit rückläufig …
… hingegen geht man bei Lärm und Feinstaub heute davon aus, dass diese zwei Umwelt-Stressoren wachsen, sich zumindest additiv, vielleicht sogar exponentiell verstärken. Hinzu kommen weitere Risikofaktoren für unser Herz-Kreislauf-System: höhere Temperaturen insbesondere in den Städten, soziale Isolation, nach neuesten Erkenntnissen auch das Licht in der Nacht.
Wie nehmen Sie in diesem Zusammenhang jüngere Kolleginnen und Kollegen wahr, bringt die junge Generation den langen Atem mit, um zu forschen und gleichzeitig aufzuklären?
Schwierige Frage. Ich habe den Eindruck, dass bei den Mitarbeitern heute die wissenschaftliche Arbeit eine weniger wichtige Rolle spielt. Mehr und mehr an Bedeutung gewinnen Aspekte wie die Freizeitgestaltung und die Familie – wobei das ohne Frage Entwicklungen sind, die insgesamt als sehr positiv anzusehen sind.
Weil die Work-Life-Balance stimmt – was wiederum dazu führt, dass der Beruf weniger stressig wahrgenommen wird.
Genau. Kritisch betrachten muss man, dass in der Universitätsmedizin der wirtschaftliche Erfolg zunehmend an Bedeutung gewinnt. Das ist eine Entwicklung, die erfolgreiches, insbesondere wissenschaftliches Arbeiten nicht einfacher macht, weil dafür die notwendigen Strukturen fehlen, die infrastrukturellen wie auch die baulichen. Dennoch sehe ich die Universitätsmedizin als eine zukunftsweisende Arbeitsstelle für Physician Scientists, die zum einen ihre klinischen Aufgaben erfüllen, zum anderen in der Lage sind, Herausragendes in der Forschung zu leisten. Man muss Ihnen nur die Zeit dafür geben, so genannte Protected Time for Research. Man darf eben nicht verlangen, dass sie in ihrer Freizeit wissenschaftlich aktiv sind. Und in der Zeit, in der man für die Wissenschaft freigestellt wird, darf es keine Gehaltseinbußen geben. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, werden wir mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs keine Sorgen haben.
Feinstaub und Letalität von COVID-19
Nach neuesten Daten ist Feinstaub ein wichtiger Co-Faktor in Bezug auf die COVID-Mortalität, je nach Ausprägung ist er mit bis zu 30 Prozent dafür mitverantwortlich, dass Menschen an einer Infektion mit COVID-19 versterben. „COVID-19-Viren gelangen über den ACE2-Rezeptor in die Endothelzelle, wobei neue Befunde darauf hinweisen, dass Feinstaub die Expression des ACE-2 Rezeptors erhöht – und damit die Aufnahme von Viren in die Zelle theoretisch gesteigert wird“, sagt Thomas Münzel Auch gebe es Vermutungen, dass der Feinstaub selbst als Vektor für den COVID-19-Virus fungieren kann. COVIDViren, die in die Endothelzelle aufgenommen werden, können eine sogenannte Endotheliitis verursachen, die jetzt erst kürzlich beschrieben wurde. „Das wiederum bedeutet, dass Herz-Kreislauf-Systeme, die schon vor der Infektion durch Feinstaub und andere Faktoren in Mitleidenschaft gezogen worden sind, durch das Virus zusätzlich belastet werden. So kann es zu Herzrhythmusstörungen, Herzinfarkt, Herzinsuffizienz und auch Schlaganfall kommen.“