Neue staatliche Regeln, Nachfrage auf Patientenseite, die Pandemie als Treiber: 2021 ist das Jahr, in dem das deutsche Gesundheitswesen die Weichen für eine digitale Zukunft stellt. Für Ärzt*innen kommt es nun darauf an, den Wandel mitzugestalten. Dabei kommt es auf interdisziplinäres und innovatives Denken an. Ein Essay von André Boße
Anzeichen dafür, dass sich der Arztberuf weiter ausdifferenziert und immer neue Felder in den Fokus kommen, sind täglich in den Medien erkennbar. Wohl nie zuvor standen medizinische Themen so hoch auf der gesellschaftlichen und medialen Agenda wie im Laufe dieser Pandemie. Ärzt*innen (und zwar längst nicht nur Virolog*innen) sind in Talkshows zu Gast und als Interviewte gefragt. Zugleich mehren sich die Anzeichen, dass im Kampf gegen Corona langsam, aber sicher die Digitalisierung des Gesundheitswesens dringend notwendigen Schwung erhält. Erste Apps sind im Einsatz, uralte Impfpässe werden in digitale Tools umgewandelt, die Impfverteilung zeigt, wie stark die moderne Medizin an Logistik angebunden ist. Auch zeigt sich, wie sehr die Entwicklung von Vakzinen vom Engagement von Investoren sowie öffentlichen Förderungen abhängig ist: Offensichtlich wird dabei, welche Rolle finanzielle Risikobereitschaft spielt, wenn es darum geht, medizinische Fortschritte zu erreichen. >> siehe Interview mit Wolfgang Klein über die „CureVac-Story“ auf den Seiten 12 und 14
Digitalisierung in den Praxen: Es gibt noch viel zu tun
Wie weit aber ist Deutschland auf dem Weg in eine digitalisierte Gesundheitsversorgung? Der aktuelle „eHealth Monitor“, eine Studie von McKinsey & Company, zeigt ein ambivalentes Bild. „Obwohl mehr als acht von zehn Ärzten bereits an die Telematik-Infrastruktur angeschlossen sind, tauschen Gesundheitseinrichtungen medizinische Daten noch weitgehend analog aus“, heißt es in der Studie. 93 Prozent der Ärzt*innen kommunizierten noch immer in Papierform mit den Krankenhäusern. Die Vernetzung sei noch unzureichend, auch das digitale Angebot ambulanter Arztpraxen sei noch relativ begrenzt: Nur 15 Prozent der Praxen gaben bei der Studie an, eine Online-Terminvereinbarung oder die Rezeptbestellung via Homepage zu ermöglichen, 59 Prozent der Praxen hatten zum Zeitpunkt der Befragung noch keinerlei digitale Services im Angebot.
Kommunikation: Fax vor Mail
Dass in Sachen neuer Kommunikationstechnik in den Arztpraxen noch eine Menge Luft nach oben ist, zeigen die Ergebnisse der Bitkom-Studie zur Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens. „Die Kommunikation verläuft größtenteils traditionell“, fassen die Studienautoren zusammen. Im Austausch mit Patient*innen sei das Telefon weiterhin der wichtigste Kanal (77 Prozent), lediglich fünf Prozent gaben an, mit den Patient*innen überwiegend via E-Mail zu kommunizieren. Den Kontakt zu anderen Praxen halten die Ärzt*innen sogar vorwiegend per Fax (22 Prozent) oder Briefpost (19 Prozent). Auch hier liegt der Anteil der E-Mail-Kommunikation bei lediglich fünf Prozent.
Ein Grund für diese digitale Zurückhaltung in den Praxen: Anders als in anderen Branchen fehlte bislang der Transformationsdruck vonseiten der Kund*innen (hier also der Patient*innen) oder auch der politischen Regulatoren. Zwar heißt es im McKinsey-Report, dass „Versicherte und Patienten offen und bewusst mit den digitalen Möglichkeiten umgehen, die ihnen das hiesige Gesundheitssystem bietet“. Die Betonung liegt dabei auf dem Angebot. Und ist dieses flächendeckend nicht gegeben, greift im Gesundheitswesen das Marktprinzip von Angebot und Nachfrage viel weniger als in anderen Branchen. Zumindest bislang, denn es scheint, als würde die Pandemie zum Game-Changer werden, wie die Studie feststellt: „Im Frühjahr 2020 boten bereits 52 Prozent aller niedergelassenen Ärzte Videosprechstunden an. Ende 2017 waren es gerade einmal 2 Prozent.“ Eine McKinsey-Umfrage im August 2020 habe zudem gezeigt, dass mehr als zwei Drittel der befragten Mediziner*innen diesen digitalen Angeboten „heute aufgeschlossener gegenüberstehen als vor der Krise“.
ePA und E-Rezept: Digitale Strukturen werden zum Muss
Ein wichtiger Treiber für diesen Boost sind neue gesundheitspolitische Regularien: Seit dem 1. Juli 2021 sind laut Bundesgesundheitsministerium alle Ärzt*innen gesetzmäßig verpflichtet, sich an das digitale ePA-System anzubinden. Interessant ist die Souveränität über die Daten dieser digitalen Akte, die liegt nämlich bei den Patient*innen, diese „bestimmen, ob und welche Daten aus dem aktuellen Behandlungskontext in der ePA gespeichert werden und auch, welche wieder gelöscht werden sollen“, heißt es auf der Homepage des Gesundheitsministeriums. Ergänzend dazu führt das Gesundheitswesen im Januar 2022 das E-Rezept ein: weniger Zettelwirtschaft, vor allem aber auch die Möglichkeit, im Anschluss einer Video-Sprechstunde über den digitalen Weg Medikamente verschreiben zu können – es ist absehbar, dass das Prinzip E-Rezept die Bedeutung von virtuellen Arztbesuchen in großem Maße antreiben wird.
Was die Ärzt*innen von diesem Wandel halten? Die Stimmung ist zwiegespalten, wie eine Studie des Digitalverbands Bitkom zeigt. Die Zahlen der Befragung von mehr als 500 Ärzt*innen verdeutlichen, dass die Berufstätigen in Kliniken mehrheitlich offen für digitale Gesundheitsangebote sind: 86 Prozent der Klinik-Ärzt*innen sehen in der Digitalisierung primär Chancen für das Gesundheitswesen. Bei den PraxisÄrzt* innen betonen lediglich 53 Prozent diese positiven Aussichten, 39 Prozent dagegen sehen die Entwicklung eher kritisch. Dabei gebe es einen deutlichen Unterschied zwischen Ärztinnen und Ärzten: „74 Prozent der Frauen sehen die Digitalisierung als Chance, aber nur 63 Prozent der Männer“, heißt es in der Studienzusammenfassung. Und: „Je jünger die Ärzte sind, desto aufgeschlossener und optimistischer sind sie.“ 88 Prozent der unter 45-Jährigen sehen die Digitalisierung als Chance, bei Ärzt*innen ab 45 Jahren liegt dieser Anteil nur bei 55 Prozent.
Medizin der Zukunft: 3D-Druck und Pandemie-Prognosen
Wenn es aber darum geht, die Chancen der Digitalisierung mit Blick auf die Zukunft des Arztberufs zu skizzieren, gehen die meisten Befragten davon aus, dass neue Techniken für maßgebliche Fortschritte in der Medizin sorgen werden. Das gilt laut Studie gerade für den Umgang mit kommenden Pandemien: „80 Prozent der Mediziner halten es für wahrscheinlich, dass spätestens im Jahr 2030 computergestützte Voraussagen flächendeckend im Einsatz sind, die vor Pandemien warnen und zum Beispiel durch Algorithmen die Dynamik von Infektionsgeschehen vorhersagen.“ Im Fokus der Szenarien für morgen steht der 3DDrucker: Viele Ärzt*innen glauben daran, dass diese Zukunftstechnik die Herstellung von Organen wie Speiseröhrenimplantate, Haut oder Knorpelscheiben übernehmen kann sowie die Produktion von Zellstrukturen übernimmt, die dann einen großen Teil der Tierversuche unnötig machen würden.
Ohne Freude an IT-Lösungen wird es kaum noch gehen, hinzu kommen ethische und soziale Fragen, denn nie zuvor stand die Medizin so sehr im gesellschaftlichen Fokus wie aktuell.
Sollte das Jahr 2021 tatsächlich zum Wendepunkt der Digitalisierung des Gesundheitswesens werden, hört diese Transformation mit der Implementierung der neuen Techniken nicht auf. Wer in der Medizin Karriere machen möchte, steht künftig vor der Aufgabe, eine ganze Reihe von Disziplinen mitzudenken: Ohne Freude an IT-Lösungen wird es kaum noch gehen, hinzu kommen ethische und soziale Fragen, denn nie zuvor stand die Medizin so sehr im gesellschaftlichen Fokus wie aktuell. Darüber hinaus wird es darauf ankommen, die Kommunikation mit den Patient*innen neu zu organisieren: Die Menschen werden seltener persönlich in die Sprechstunden kommen, Video-Chats und digitale Diagnosen werden einen größeren Stellenwert einnehmen. Dazu steigt die Datensouveränität der Patient*innen, die mitbestimmen können, was in ihrer elektronischen Patientenakte gespeichert wird – und was eben nicht.
Es ist also davon auszugehen, dass das partnerschaftliche Miteinander an Bedeutung gewinnen wird. Gerade weil die Technik immer mehr übernehmen wird, ist es wichtig, als Arzt oder Ärztin ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Menschen aufzubauen und zu pflegen. Und zwar nicht nur im Vier-Augen-Gespräch, sondern auch über vielfältige digitale Kommunikationswege. Für junge Ärzt*innen bringen diese Entwicklungen Vorteile mit: Sie bringen aus ihrem privaten Leben bereits eine Vielzahl an Erfahrungen mit, wie sich eine vertrauensvolle Cross-Channel-Kommunikation aufbauen lässt.