„Allein in unseren Krankenhäusern fehlen bis zum Jahr 2030 etwa 111.000 Ärztinnen und Ärzte, prognostiziert die Unternehmensberatung Roland Berger“, war bereits 2014 in der Ärztestatistik der Bundesärztekammer zu lesen. Die Karrierechancen für Mediziner sind bis heute blendend. Doch egal, wo sie tätig sind: Die Digitalisierung bringt neue Methoden und Techniken in die Praxen und Kliniken und der Arzt rückt näher an die Schnittstelle zur IT heran. Soziale Kompetenzen und ethische Fragen werden dadurch umso wichtiger. Von André Boße
Die Gesellschaft altert, und es gibt kaum eine Berufsgruppe, die davon so sehr beeinflusst wird, wie die Ärzteschaft. „Die deutsche Bevölkerung wird zukünftig deutlich älter sein als jetzt: Prognosen gehen davon aus, dass 2060 jeder Dritte mindestens 65 Jahre alt sein wird“, heißt es im aktuellen Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung zum demografischen Wandel. Für Ärzte bedeutet das zweierlei:
Erstens, weil die Menschen immer älter werden, steigt der Bedarf nach ärztlicher Behandlung – in den Krankenhäusern erhöhte sich die Zahl der Behandlungsfälle in den vergangenen zehn Jahren um mehr als 2,5 Millionen auf fast 19,8 Millionen, wie die neuesten Zahlen der Ärztestatistik 2016 der Bundesärztekammer (BÄK) zeigen.
Neurologie hilft bei Deep Learning
Die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz mithilfe der Methoden des maschinellen Lernens wird längst nicht nur von der IT vorangetrieben. Die Basis für diesen Ansatz liefert die Neurologie. Beim 90. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, der im September 2017 in Leipzig stattfand, war das „Human Brain Project“ ein Schwerpunktthema. Es verfolgt laut Prof. Dr. Katrin Amunts, Leiterin des Führungsgremiums, drei Ziele: „Erstens, das komplette menschliche Gehirn innerhalb der nächsten zehn Jahre detailgetreu von der Genetik über die molekulare Ebene bis hin zur Interaktion ganzer Zellverbände auf einem Supercomputer der Zukunft simulieren. Zweitens, neue Technologien entwickeln und Computer bauen – und sich dabei vom Gehirn inspirieren lassen. Drittens, Wissen über das Gehirn verfügbar machen.“
www.humanbrainproject.eu
Zweitens, neben der Gesellschaft „altert auch die Ärzteschaft mit“, wie BÄK-Präsident Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery sagt. „Fast jeder vierte niedergelassene Arzt plant, in den nächsten fünf Jahren seine Praxis aufzugeben.“ Zwar stieg im Jahr 2016 die Zahl der berufstätigen Ärzte unter 35 Jahren, die Statistik verbucht ein Plus von gut 2300 Medizinern. Doch die Zahl der noch berufstätigen über 65-Jährigen stieg auf knapp 2500 – die Jungen können die Zahl der Ruheständler von morgen also kaum kompensieren.
Vollbeschäftigung und Personalnot
„Es gibt wohl kaum einen anderen akademischen Beruf mit derart guten Karrierechancen wie den des Arztes“, folgert PD Dr. Peter Bobbert, Bundesvorstandsmitglied des Marburger Bundes, aus den Zahlen. Nach volkswirtschaftlichen Kriterien könne man praktisch von Vollbeschäftigung sprechen. „Obwohl Jahr für Jahr rund 10.000 Medizinabsolventen nachrücken, herrscht in Kliniken und Praxen abseits der Metropolen vielfach Personalnot.“ Jedoch beobachtet Bobbert, Oberarzt im Evangelischen Krankenhaus Hubertus Berlin, dass Berufsanfänger mit ganz eigenen Wünschen und Bedürfnissen in die Karriere einsteigen.
Das Bild des jungen Arztes, der sich opferbereit in die Mühlen des Berufs stürzt, ist überholt. „Nicht jeder ist in gleichem Maße bereit, eine Vollzeitstelle anzutreten. Gerade die Jüngeren legen besonderen Wert auf Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Sie sind eher bereit, weniger zu arbeiten, um dafür mehr freie Zeit zu haben.“ Bei der Analyse der Karrierewege von Einsteigern hat der Marburger Bund festgestellt, dass sich vor allem junge Ärztinnen gegen die Karriere in einer Klinik und für eine angestellte Tätigkeit im ambulanten Bereich entscheiden. Bobbert: „Hier haben sie keine Zusatzdienste, wie sie im Krankenhaus üblich sind. Dieser Trend wird sich aller Voraussicht nach fortsetzen.“
Trend zur Festanstellung
Im Jahr 2016 betrug der Zuwachs bei den Festanstellungen im ambulanten Bereich laut Ärztestatistik der Bundesärztekammer 10,1 Prozent. Die Gesamtzahl der im ambulanten Bereich angestellten Ärzte erhöhte sich auf 32.348; damit hat sich ihre Zahl seit 1993 fast versechsfacht. Bemerkenswert sei der hohe Frauenanteil von 62,7 Prozent in dieser Gruppe. Die Zahl der niedergelassenen Ärzte dagegen sank im Jahr 2016 um 0,9 Prozent auf 119.641.
Und noch einen Trend hat der Mediziner erkannt: Praxisgemeinschaften und medizinische Versorgungszentren verzeichnen seit Jahren einen immer größeren Zulauf. „Die Zusammenarbeit und der fachliche Austausch mit Kollegen ist in diesen kooperativen Strukturen besser möglich als in der Einzelpraxis.“ Und darauf legte gerade der Nachwuchs gesteigerten Wert.
Karriere in der Forschung: Rahmenbedingungen stimmen nicht
Als alternative Laufbahn bietet sich in dieser Hinsicht auch eine Karriere in Forschungseinrichtungen an: Das Knowhow der Mediziner ist hier gefragt, in Teams gearbeitet werden kann auch hier. Doch der Zulauf hat Luft nach oben. „Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat schon im Jahr 2010 beklagt, dass sich zu wenige Medizinstudierende für eine Tätigkeit in der Forschung oder in der Hochschulmedizin entscheiden. Daran hat sich seitdem nicht viel geändert“, sagt Peter Bobbert. Das liege vor allem an den Rahmenbedingungen: „Das Medizinstudium bietet zu wenig Freiräume für experimentelle Doktorarbeiten, in der klinischen Weiterbildung kommt die Forschung oft zu kurz, denn die jungen Ärzte sind voll in den Klinikalltag eingebunden. Forschung findet häufig nach Dienstschluss statt, also in der knapp bemessenen freien Zeit.“
Haben Ärzte dann den Weg in die Wissenschaft eingeschlagen, hänge das weitere Fortkommen meist davon ab, ob der öffentlichen Forschungseinrichtung projektbezogene Mittel zur Verfügung stehen. Dass die Arbeitsverträge in der Forschung häufig befristet sind, trage ebenfalls dazu bei, dass die Forschung für junge Ärzte an Attraktivität verliert, wie das Vorstandsmitglied des Marburger Bundes feststellt: „Die Unsicherheit über die weitere Karriereperspektive ist am Anfang schon sehr groß.“ Anders liege der Fall bei Laufbahnen in der pharmazeutischen Industrie. Bobbert: „Hier ist die Bezahlung in der Regel besser; man ist dann aber Teil eines gewinnorientierten Unternehmens und handelt in dessen Interesse.“
Gewebe aus dem 3-D-Druck
Egal, wo Ärzte tätig sind: Geprägt wird ihre Arbeit durch den grundlegenden Wandel der Digitalisierung. Die Rede ist hier nicht mehr nur von computergestützter Arbeit; die Veränderungen, die sich durch Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz oder der Robotik ergeben, gehen viel weiter. Der OP-Roboter Da Vinci ist bereits heute in vielen Kliniken im Einsatz, die Technik des 3D-Drucks sorgt dafür, dass Medikamente und Implantate ausgedruckt werden können.
Warnung vor Hackern
Die amerikanische Food and Drug Administration hat davor gewarnt, dass Herzschrittmacher und Defibrillatoren nicht ausreichend gegen Hackerangriffe gesichert seien. Betroffen von einem notwendigen Software-Update sind auch Tausende Patienten in Deutschland, teilte das Deutsche Ärzteblatt mit.
In Dresden arbeitet am Biotechnology Center der TU ein Team um den Materialforscher Dr. Ivan Minev an elektronischen Gewebetechnologien. „Wir sind daran interessiert, Organe zu reparieren, die durch eine Verletzung oder eine Krankheit in Mitleidenschaft gezogen worden sind“, sagt der Wissenschaftler. „Unsere Vision ist es, Miniatur- Labore zu entwickeln, die innerhalb des Körpers die notwendigen Therapieprogramme starten. Zum Beispiel kann durch eine Kombination aus kleinen elektrischen Impulsen sowie den Einsatz von Ersatzzellen und Medikamenten der Selbstheilungsprozess eines beschädigten Gewebes in Gang gesetzt werden.“
Im Fraunhofer Institut für Bildgestützte Medizin (MEVIS) nutzt man die IT-Technik des Maschinellen Lernens, um die Veränderungen von Tumoren genauer zu analysieren. „Unsere Technik erhöht die Sicherheit bei der Vermessung und Nachverfolgung der Tumoren“, sagt Mark Schenk, der an der Schnittstelle zwischen IT und Medizin forscht. „Die Software kann zum Beispiel erfassen, wie sich das Volumen eines Tumors im Laufe der Zeit verändert und unterstützt beim Aufspüren neuer Geschwulste.“ Das Besondere: Der Computer verrichtet seine Arbeit mithilfe Künstlicher Intelligenz, je mehr Datensätze das Programm analysiert, desto besser sind die Ergebnisse.
„Surgeoneering“:
Zusammenarbeit von Medizinern, Informatikern und Ingenieuren Die Medizinische Fakultät der Universität Leipzig bietet Studenten technischer Fachrichtungen als auch angehenden Humanmedizinern in einem Innovationszentrum für computerassistierte Chirurgie (ICAAS) besondere Lehrveranstaltungen an. Hier werden Vorlesungen wie zum Beispiel diese angeboten: „Chirurgische Navigation, Mechatronik und Robotik“.
www.uni-leipzig.de
Diese Ansätze des maschinellen Lernens – auch Deep Learning genannt – nutzt das Fraunhofer Institut MEVIS auch für Softwaresysteme, die Ärzte bei der Entscheidung für die richtige Therapie unterstützen. Große Datenbanken und die automatische Erkennung von Mustern und Gesetzmäßigkeiten erleichtern den Medizinern die Diagnoseund Therapieentscheidungen. „Wenn es um das Erkennen relevanter Muster und Zusammenhänge in komplexen Datenmengen geht, sind Computer mittlerweile besser als der Mensch“, sagt Horst Hahn, Institutsleiter von Fraunhofer MEVIS. „Das bedeutet aber nicht, dass der Rechner die Therapieentscheidung trifft, sondern dass er die Ärzte durch sein datenbankbasiertes Wissen unterstützt.“
Debatte über Transparenz und Ganzheitlichkeit
Dennoch: „Solche Technologien berühren den Kern ärztlicher Tätigkeit und haben das Potenzial, sie in Teilen zu ersetzen“, sagt Peter Bobbert vom Marburger Bund. Dieser mache sich deshalb dafür stark, dass die zugrundeliegenden Algorithmen transparent sind. „Insbesondere muss verhindert werden, dass zum Beispiel kommerzielle Aspekte verdeckt oder offen die Entscheidungen beeinflussen. Ärzte müssen auch zukünftig das Recht haben, entgegen der Empfehlung von intelligenter Software abweichende Behandlungsentscheidungen im Interesse ihrer Patienten und gemeinsam mit diesen zu treffen.“
Der Berufsgruppe der Ärzte stehen hier interessante Debatten ins Haus, wobei Bobbert glaubt, dass die digitale Technik die Medizin auf ein neues Niveau heben wird: „Wenn es stimmt, dass sich das medizinische Wissen alle zwei bis drei Jahre verdoppelt und dieser Zeitraum eher noch kürzer werden wird, dann brauchen wir neuartige Technologien, die diese Datenmengen aus unterschiedlichen Quellen zusammenführen, auswerten und für die ärztliche Fakten- und Evidenzgenerierung verfügbar machen.“ Jedoch könne eines nicht ersetzt werden: die ganzheitliche Betrachtung des Patienten durch den Arzt – die eben nicht nur medizinische Daten beinhaltet, sondern auch die sozialen Aspekte: Ein Computersystem, das ein vertrauensvolles Gespräch mit dem Arzt ersetzen kann, steht noch nicht in Aussicht.
BÄK fordert Spielregeln bei Digitalisierung
Teil der Digitalisierung der Medizin sind nicht nur Deep-Learning-Verfahren und OP-Roboter in der Forschung und in Kliniken. Die Zahl von Apps, die für Patienten Daten erheben, steigt von Monat zu Monat. Die Ärzte pochen dabei im Sinne des Patientenschutzes auf klare Spielregeln für diese digitalen Helferlein, heißt es in einem Papier der Bundesärztekammer (BÄK): „Es muss sichergestellt sein, dass niemand unwissentlich mit persönlichen Daten für scheinbar kostenlose Gesundheits-Apps bezahlt“, fordert BÄK-Präsident Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery. „Solche Apps müssen genauso zugelassen und zertifiziert werden wie andere Medizinprodukte.“