StartKünstliche IntelligenzZuversicht in Zeiten der Omnikrisen: Jurist:innen und Generative KI

Zuversicht in Zeiten der Omnikrisen: Jurist:innen und Generative KI

Jurist:innen stehen vor neuen Herausforderungen in einer Ära der Omnikrisen. Wie Generative KI und innovative Arbeitsmodelle die Rechtsbranche verändern und warum Zuversicht und Offenheit entscheidend sind, um den Wandel erfolgreich zu gestalten – eine Analyse. Ein Essay von André Boße

Ein Begriff, der in diesem Jahr 2025 häufig Erwähnung findet, ist das Wort Zuversicht. Klar, die Zahl der politischen und gesellschaftlichen Problemlagen nimmt nicht ab. Niemand spricht mehr von der Krise im Singular. Wir erleben vielmehr das Zeitalter der Omnikrisen. Was das ist, definiert der Zukunftsforscher Matthias Horx in einem Meinungsbeitrag auf der Webseite seines Think-Tanks „The Future: Project“: „Zweifelsohne haben wir es heute mit sich überlagernden Krisenphänomenen zu tun: Krisen der Globalisierung, Krisen der Umwelt, Krisen der Gesellschaft, der Demokratie, der Technologie.“ Die „wahre Krise“ dieser Zeit jedoch sei eine „Wahrnehmungs- und Kognitionskrise“. Oder überspitzt formuliert: eine eingebildete Krise. Denn: „Die meisten Phänomene, die uns heute in eine apokalyptische Verzweiflungsstimmung bringen, gab es eigentlich immer schon:

Mörderische Kriege, Ungerechtigkeiten, Naturzerstörungen und großflächiger, bedrohlicher Wandel sind nichts Neues“, schreibt Horx. Das Problem sei: Die Legende vom ständigen Fortschritt habe uns glauben gemacht, alles würde immer besser. Fairer. Am Gemeinwohl interessierter. Dass es nun offensichtlich anders kommt, sorgt für eine herbe Enttäuschung. Mit der Folge, dass selbst normale und harmlose Phänomene und Entwicklungen als „monströs“ wahrgenommen werden. Weil, schreibt der Zukunftsforscher die „Hypermedialisierung durch Internet und Künstliche Intelligenz“ zu einer „kollektiven Hysterisierung von Wahrnehmungsformen“ führe. Schon der Volksmund hält für dieses Phänomen ein Sprichwort parat: „Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“

Viele Probleme – aber die Lösung liegt auf dem Tisch

Woraus sich in dieser Stimmung heraus Zuversicht ableiten lässt: Mit einem Fokus auf das, was man kann. Was einen stark macht. Das gilt für alle Berufsgruppen. Es gilt aber besonders für Jurist:innen. In den vergangenen Jahren konnte durchaus der Eindruck entstehen, dass überall dort, wo Juristin: innen tätig sind, der Veränderungsdruck besonders groß ist. Mit der Folge, dass es die Zuversicht in Kanzleien, in der Verwaltung oder in den Rechtsabteilungen der Unternehmen schwer hatte. Dabei ist sie dort besonders wichtig. Um mit den Veränderungen nicht nur leben zu können, sondern daraus Stärken zu entwickeln. Auch, wenn’s unbequem wird. Matthias Horx schreibt dazu: „Individuen, Systeme, Unternehmen, Gesellschaften ändern sich kaum, wenn alles komfortabel ist.

Deutscher Legal Tech-Markt wächst

Foto: AdobeStock/fotohansel
Foto: AdobeStock/fotohansel

Der Legal Tech Monitor, veröffentlicht vom Legal Tech Verband, untersucht regelmäßig den technischen Fortschritt auf dem Rechtsmarkt. Die neue Studie für 2025 zeigt, dass der Markt eine beachtliche Größe erreicht hat. So sind in Deutschland rund 300 Legal Tech- Unternehmen aktiv, die bis zu 10.000 Beschäftigten Arbeit geben. Darunter natürlich nicht nur Jurist:innen – der Markt zeichnet sich durch eine große Interdisziplinarität aus. Bei den Unternehmen handelt es sich um bereits etablierte Player, aber auch um noch junge Startups, die sich häufig auf kleine Nischen spezialisieren und „dynamische, aber schwankende Wachstumsverläufe“ vorweisen. Sprich: Wer sich für einen Job in dieser jungen Szene interessiert, geht ein gewisses Risiko ein. Kann aber von der Dynamik profitieren.

Wege aus der Krisenstimmung

Wandel geschieht eher, wenn wir auf äußere Veränderungen reagieren – sprich: auf Krisen eine Antwort finden. (…) Wenn wir endlich aufhören, zu jammern und uns ständig darüber zu beschweren, was die Welt uns zumutet.“ Ein Blick in das Innenleben von Kanzleien und Rechtsabteilungen. Der juristische Informationsdienstleister Wolters Kluwer veröffentlicht einmal im Jahr eine „Future Lawyers Studie“; der aktuelle Report erschien im Herbst vergangenen Jahres. Der Titel lautet „Legal Innovation“, der Untertitel bringt die Frage auf den Punkt: „Die Zukunft gestalten oder abgehängt werden?“ Klar, jeder Teilnehmende der Befragung, die dieser Studie zugrunde liegt, sieht sich lieber als „Gestalter“, denn als ein Akteur, der „abgehängt“ wird.

Informationssicherheit managen

Wenn es aber darum geht, die fünf zentralen Trends zu benennen, die in den kommenden drei Jahren die größte Auswirkung auf den Rechtsmarkt haben werden, ist die Sichtweise eher negativ. Und zwar international: Die Studie beruht auf Interviews mit mehr als 700 Anwält:innen aus Kanzleien und Rechtsabteilungen in den USA sowie in neun Ländern Europas, darunter auch Deutschland. Die Trends lauten: Den hohen Kosten- und Preisdruck zu bewältigen – also dafür zu sorgen, dass sich das Geschäft weiterhin rechnet. Die Informationssicherheit managen – also Datenschutz zu garantieren, Missbrauch zu verhindern. Mit der Menge und Komplexität von Informationen klarzukommen – also nicht in Daten unterzugehen. Und schließlich genügend Fachkräfte zu gewinnen – also ein schlagkräftiges Team zusammenzustellen.

„Gemeinsam denkt es sich leichter als allein.“ Matthias Horx

Das sind vier Trends mit negativer Konnotation. Interessant daher, dass der fünfte Spitzentrend das Potenzial besitzt, alle vier anderen Probleme zu lösen: Die GenAI – also Systeme mit generativer Künstlicher Intelligenz, die in der Lage sind, eigene Inhalte herzustellen – werde sich immer verstärkter auf die Arbeit in Kanzleien und Rechtsabteilungen auswirken. Eingesetzt werde sie laut Studie heute vor allem, „um die Effizienz zu steigern und den wachsenden Anforderungen ihrer Mandant: innen gerecht zu werden“. Wobei die GenAI mehr kann: Sie macht Kanzleien effizienter, was den Kostendruck abmildern kann. Sie ist eine starke Methode, um die Komplexität von Daten zu reduzieren. Mit dem Ziel, die Daten nicht nur zu sammeln, sondern mit ihnen sinnvoll arbeiten zu können. Und: Eine Kanzlei oder eine Rechtsabteilung, die schon jetzt gewinnbringend auf die GenAI setzt, hat beste Karten, talentierte oder erprobte Spitzenkräfte zu gewinnen. Denn diese suchen sich ihre Arbeitgeber heute eben nicht nur danach aus, wer am besten zahlt. Die Studie zeigt: Noch höher bewerten die juristische Fachkräfte eine „akzeptable Work-Life- Balance“, und als genauso wichtig wie „wettbewerbsfähige Vergütungspakete“ betrachten sie die berufliche Entwicklung und Weiterbildung.

Rückkehr ins Büro – aber bitte für Begegnungen

In diesem wichtigen Feld punkten Arbeitgeber auch dann, wenn sie ein innovatives Arbeitsumfeld bieten. Das wiederum geht mit GenAI-Systemen auf dem neuesten Stand, die so eingesetzt werden, dass sie die Effizienz, Produktivität und auch die Qualität der Arbeit erhöhen. Was dann wiederum auf die Work-Life-Balance einzahlt. Denn wenn eine Künstliche Intelligenz Aktenberge analysiert, muss das eine Fachkraft nicht bis tief in die Nacht hinein erledigen. Stattdessen kann sie sich am Morgen danach mit den Schlussfolgerungen aus der Analyse beschäftigen. Und zwar gerne im persönlichen Austausch mit Kolleg:innen. Denn auch das zeigt die Studie: „Jurist:innen kehren in ihre Büros zurück“, lautet eine Zwischenüberschrift der Studien-Zusammenfassung. In fast Dreiviertel der befragten Kanzleien und Rechtsabteilungen arbeiten die Jursti: innen wieder vier und mehr Tage die Woche im Büro. Was im besten Fall dazu führe, dass die Fachkräfte diese gemeinsame Zeit „für den persönlichen Austausch“ nutzen, wie die Studie festhält.

Ende des Stundensatzes

Foto: AdobeStock/Nijat
Foto: AdobeStock/Nijat

Seit klar ist, dass die Generative KI in den Kanzleien für ungeahnte neue Effizienz sorgen wird, mehren sich die Stimmen, dass die klassische Abrechnung nach Stunden bald der Vergangenheit angehören könnte. In einem Meinungsbeitrag für die Nachrichtenagentur Reuters stellen die beiden juristischen Markt-Expert:innnen Sharzaad Borna und Jeremy Glaser in Aussicht, dass von einer Verlagerung hin zu Pauschalgebühren oder leistungsabhängigen Preisen auszugehen sei – „insbesondere in Bereichen wie Fusionen und Übernahmen“. Plattformen wie „Relativity“ oder „Harvey“ automatisierten diese Prozesse bereits heute. „Sie liefern Ergebnisse in einem Bruchteil der Zeit, die früher dafür benötigt wurde“, heißt es in dem Beitrag. „Diese Tools revolutionieren die Art und Weise, wie Anwaltskanzleien ihre Dienstleistungen erbringen, und zwingen sie dazu, ihre Abrechnungsmethoden für Zeit und Fachwissen zu überdenken.“

Generell stellen die Studienautor:innen fest, dass die Kanzleien und Rechtsabteilungen schon heute flexibler zu Werke gehen – und damit genau richtig liegen. „Um ihre Arbeit effizienter und effektiver zu gestalten, erweitern die Rechtsteams ihren Werkzeugkasten“, fassen die Studienautoren die Ergebnisse zusammen. „Durch GenAI haben sie die Möglichkeit, Arbeitsabläufe neu zu gestalten und den Personaleinsatz anzupassen und zu optimieren. Kanzleien haben die Möglichkeit, die Erbringung von Dienstleistungen für ihre Mandant:innen zu überdenken, einschließlich der Nutzung alternativer Honorarvereinbarungen, die von den traditionellen juristischen Geschäftsmodellen der abrechenbaren Stunden abweichen.“ Aus diesen Punkten leiten die Expert:innen von Wolters Kluwer in der Studienzusammenfassung die so bedeutsame „Zuversicht“ in diesen Zeiten der Veränderung ab: „Die Angehörigen der Rechtsberufe sind optimistisch, was ihre Fähigkeit angeht, mit dem sich beschleunigenden Wandel Schritt zu halten.“

Zuversicht durch neue Sicht

Auch in einem ganz anderen Berufsbereich stehen Jurist:innen vor der Aufgabe, dem Wandel nicht im Weg zu stehen, sondern ihn im Zusammenspiel mit anderen voranzutreiben: in der Verwaltung. Forschende von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften legten zuletzt eine Studie vor, die der Frage nachgeht, wie die deutsche Verwaltung „innovationsfreundlicher“ werden könnte. Dass es bei dieser Studie auch um den juristischen Beruf gehen würde, liegt auf der Hand: „Mit rund 44 Prozent stellen Juristinnen und Juristen die größte Gruppe der Führungskr.fte in der Verwaltung“, heißt es in der Studie. So viel wie in keinem anderen Land in Europa. Dieser Umstand gewähre „einerseits die Rechtssicherheit“. Er könne aber auch der Entwicklung von Innovationsgeist und agilen Lösungsansätzen entgegenstehen. „Innovationen entstehen aus Ideen und Veränderungsbereitschaft“, wird Projektleiter Christoph M. Schmidt in der Zusammenfassung der Forschungsergebnisse auf der Homepage der Akademie zitiert. „Das gilt auch für die Transformation der staatlichen Verwaltung. Ihre Modernisierung wird nur gelingen, wenn sie sich agilen und effizienten Lösungswegen und hierarchie- und ressortübergreifenden Arbeitsweisen öffnet und statt auf das Vermeiden von Fehlern auf die aktive Suche nach Lösungen abzielt.“

„Wer vor dem Selbstwandel keine Angst hat, kann Großes bewirken.“ Matthias Horx

Das ist durchaus als Kritik an das juristische Arbeiten in der Verwaltung zu verstehen. In der Langfassung der Verwaltungsstudie wird Projektleiter Schmidt noch konkreter: Eine einseitige Fokussierung auf die juristische Qualifikation bei der Besetzung von Führungsstellen in der Verwaltung führe zu einer Vernachlässigung von Kompetenzen, die für eine „agilere und effizientere Verwaltung zumindest gleichermaßen nötig wären“. Nämlich: Innovationsbereitschaft und Agilität. Nicht, dass Jurist:innen diese Skills nicht besitzen. Jedoch stehen sie zumeist nicht im Zentrum des Anforderungsprofils. Weshalb es wichtig sei, „Anreize für Fachkräfte mit privatwirtschaftlichem Hintergrund“ zu schaffen, um so neues Fachwissen in die Verwaltung einzubringen und für neue Impulse zu sorgen.

Wandel ist unbequem – muss aber sein

Moment, könnte manch eine juristische Fachkraft jetzt denken. Sind wir das Problem? Nein. Jurst:innen stehen immer für Lösungen. Und diese zu finden, ist in der Welt der Omnikrisen wichtiger denn je. Nur: Ob Systeme der GenAI in den Kanzleien und Rechtsabteilungen oder Kolleg:innen aus anderen Bereichen und besonders mit privatwirtschaftlichem Hintergrund in den Verwaltungen – diese neuen Akteure fordern die Jurist:innen heraus, neu zu denken. Effizienter und produktiver zu arbeiten. Innovativer und zielgerichteter. Manchmal auch progressiver – und nicht auf das pochend, was schon immer galt. Wobei dies – und auch das ist ein Trend – gerne im persönlichen Austausch mit Kolleg:innen passieren darf. Um gemeinsam festzustellen, dass man zuversichtlich in die Zukunft blicken kann. Was in Teams häufig besser funktioniert als allein.

„Die menschliche Grundkompetenz ist nicht stetiger Wandel“, schreibt Zukunftsforscher Matthias Horx in seinem Meinungsbeitrag über „Die Omnikrise“. „Warum auch? Warum sollten wir das Funktionierende nicht beibehalten, das Existierende belassen?“ Nur: Wenn es nicht mehr recht funktioniert, dann stockt es. Dann ist Wandel nötig. Wie man ihn forcieren kann? Horx: „Indem wir die Angst vor dem Selbstwandel überwinden.“

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