Wie verändern Digitalisierung und Künstliche Intelligenz die Wirklichkeit – und warum droht sogar ein „Realitätsverlust“? Der Arzt und Neurowissenschaftler Prof. Dr. Joachim Bauer verweist im Interview darauf, dass echte Begegnungen und analoge Präsenz durch nichts zu ersetzen sind. Schon gar nicht durch digitale Welten, die Versprechen geben, die sie nicht einhalten. Die Fragen stellte André Boße.
Zur Person
Prof. Dr. Joachim Bauer war nach seinem Medizinstudium, parallel zu seiner klinischen Ausbildung, viele Jahre in der Forschung tätig. Für seine Forschungsarbeiten erhielt er den renommierten Organon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie. Er ist Facharzt für Innere Medizin und Facharzt für Psychiatrie und in beiden Fächern habilitiert. Bauer ist Autor viel beachteter Sachbücher. Joachim Bauer war lange Jahre an der Universität Freiburg tätig. Er lebt, forscht und arbeitet jetzt in Berlin.
Herr Prof. Bauer, wie lässt sich die Sogwirkung, die von digitalen Geräten und insbesondere den Smartphones ausgehen, neurowissenschaftlich erklären?
Die Motivationssysteme des menschlichen Gehirns sind gierig auf soziale Beachtung und Anerkennung, entsprechend steuern sie unser Verhalten. Smartphones sind, selbst wenn sie keinen Ton von sich geben, eine Art Versprechen: Dass sich Leute melden, die etwas von mir wollen. Das Smartphone verspricht: Du bist wichtig und wirst gesehen. Die dadurch erzeugte Ablenkung ist derart stark, dass Testpersonen sich die Inhalte von gelesenen kurzen Texten nicht mehr so gut merken konnten, wenn während des Lesens ein Smartphone auf dem Tisch lag.
Wann wird diese Sogwirkung zu einem Risiko?
Sie gefährdet die Qualität unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. Ständig kann man beobachten, wie kleine Kinder versuchen, in Kontakt zu ihrer begleitenden erwachsenen Bezugsperson zu kommen, diese aber nicht vom Handy wegkommt und dem Kind damit signalisiert: Es gibt Wichtigeres als dich. Kinder können sich nicht wehren. Wenn wir ein solches Verhalten – man nennt das in der Forschung übrigens „Phubbing“ – anderen Erwachsenen zumuten, dann zeigen Studien, dass sich die entsprechenden Beziehungen verschlechtern. Das betrifft Paarbeziehungen genauso wie Beziehungen zu Kollegen.
Besteht auch ein medizinisches Risiko?
Ja, wenn die Sogwirkung des Smartphones in Suchtverhalten umschlägt. In Deutschland sind zwei Millionen Jugendliche zwischen 10 und 17 Jahren täglich stundenlang in Sozialen Medien unterwegs, hunderttausende junge Leute in dieser Altersgruppe gamen tagtäglich bis in die Nacht. Intensivnutzerinnen von Sozialen Medien erhöhen ihr Risiko für Angst und Depression, Intensivnutzer von Videospielen vernachlässigen ihr analoges Leben und bewegen sich zu wenig.
Wie definieren Sie die analoge Realität und was unterscheidet sie von einer digitalen Realität?
„Analoge Realität“ ist die lebendige Welt, in der Menschen sich von Angesicht zu Angesicht begegnen, miteinander arbeiten, spielen oder etwas unternehmen. Wo wir uns in die Augen schauen können und die feinen Nuancen der menschlichen Körpersprache wahrnehmen können. Wo wir uns durch unmittelbare Wahrnehmung in andere empathisch einfühlen oder auch Konflikte austragen und bereinigen können. Das alles geht theoretisch auch online, also auch in den digitalen Kommunikationskanälen der Sozialen Medien oder beim gemeinsamen Videospielen, wo sich die Spieler gegenseitig in den Bildschirm einblenden können. Dabei geht aber immens viel der feinen Wahrnehmung verloren, die uns analoge Kontakte möglich machen. Online-Kontakte sind, ohne dass wir das sofort merken, auf die Dauer anstrengend. Neuere Studien beschreiben bei Berufstätigen, die „remote“ arbeiten oder viel online kommunizieren müssen, eine sogenannte „Videoconference Fatigue“.
Worauf es für die Gesundheit ankommt, ist das, was man in der psychologischen Forschung ‚sichere Bindungen‘ nennt, also verlässliche Beziehungen. Nur wer davon zumindest einige wenige hat, schützt seine Gesundheit.
Warum eigentlich ist unser Denken und ist unser Körper so sehr auf physische und soziale Begegnungen „gepolt“?
Freundlichkeit, menschliche Nähe und soziale Unterstützung beruhigen das Stresssystem, senken den Blutdruck und stärken die Immunabwehr. Fehlende soziale Verbundenheit oder Einsamkeit führen zu Veränderungen der Genaktivität von immunologisch relevanten Genen und begünstigen chronische schleichende Entzündungsprozesse. Die Folgen sind ein erhöhtes Risiko für den Herz-Kreislauf und eine verkürzte Lebensdauer. Oberflächliche Kontakte, wie sie in den Sozialen Medien oder Chats stattfinden, haben keinen „Nährwert“, hier ist man heute Freund und morgen Feind. Worauf es für die Gesundheit ankommt, ist das, was man in der psychologischen Forschung „sichere Bindungen“ nennt, also verlässliche Beziehungen. Nur wer davon zumindest einige wenige hat, schützt seine Gesundheit.
Studien zeigen, dass das Versprechen von Eingebundenheit in digitalen Welten nicht eingehalten wird. Aber ist das in der analogen Welt nicht genauso?
Muss der Mensch dort nicht auch damit leben lernen, mit Ausgrenzung klarzukommen? Die Frage ist berechtigt. Ausgrenzung macht auch in der analogen Welt krank. Die analoge Welt, die physische Begegnung zwischen Menschen ist jedoch die entscheidende Ressource, aus der wir das schöpfen können, was wir brauchen: Echte Freundschaften und Bindungen. Die digitale Welt kann helfen, solche Bindungen anzubahnen – denken Sie an Partnerbörsen. Wer dann aber dort bleibt und keinen Fuß auf den Boden einer analogen Beziehung bekommt, bleibt im Grunde einsam und wird am Ende krank, ich habe solche Fälle in meiner Praxis gesehen.
Wir sprachen vom Sog digitaler Angebote. Werden Anwendungen mit generativer Künstlicher Intelligenz diese Sogwirkung noch erhöhen?
Maschinen mit Künstlicher Intelligenz können dem Menschen in vielen Bereichen als Assistenten dienen, das taten sie schon bevor Chat-GPT auf den Markt kam, ohne dass dies damals an die große Glocke gehängt wurde. Das betrifft auch die Medizin, wo uns KI helfen kann, große Datenmengen nach Mustern zu durchsuchen und bisher unerkannte Zusammenhänge aufzudecken. Bereits jetzt erfolgreich eingesetzt wird KI zum Beispiel in der Röntgendiagnostik oder bei der Befundung von krebsverdächtigen Auffälligkeiten der Haut. Eine Sogwirkung – um zu Ihrer Frage zu kommen – kann von sprechenden KIs, also von Chatbots ausgehen, die nicht nur banale Unterhaltungen, sondern auch Arzt- oder Psychotherapie- Gespräche führen können. Diese KIs sind so gut, dass Nutzer heute nicht mehr unterscheiden können, ob sie es mit einem Menschen oder mit einer KI zu tun haben.
Sehen Sie da eher die Vor- oder Nachteile?
Ich sehe zwei Seiten: Einerseits können sie Menschen in Akutsituationen eine vielleicht hilfreiche oder überbrückende Auskunft geben. Andererseits sind viele dieser Angebote nicht ausreichend qualitätsgesichert. Wo keine persönliche Untersuchung des Patienten stattgefunden hat, können medizinische Auskünfte irreführend, zumindest nur vorläufig sein. Ein weiteres Problem: Wer trägt die Verantwortung, wenn KIs Diagnosen stellen und Therapien vorschlagen? Und schließlich bleibt das Thema Abhängigkeit. Bereits jetzt gibt es viele Nutzer, die mit einem Chatbot eine Dauerbeziehung eingegangen sind, als Ersatz für eine echte zwischenmenschliche Beziehung.
Digitale Produkte sind nichts Schlechtes, sie können uns assistieren. Damit wir sie – und nicht sie uns – beherrschen, müssen wir Regulierungen installieren, die sicherstellen, dass der Mensch die Kontrolle behält.
Wie kann es gelingen, in digitalen Welten in Social Media oder im Gaming die Kontrolle zu behalten?
Welche Skills benötigt die Gesellschaft dafür – und welche Skills müssen wir jungen Menschen vermitteln? Wir müssen die von Konzernen und Teilen der Medien betriebene Einschüchterung beenden, deren Ziel es ist, dass wir Menschen uns gegenüber den digitalen Systemen, insbesondere gegenüber KI minderwertig fühlen sollen. Digitale Produkte sind nichts Schlechtes, sie können uns assistieren. Damit wir sie – und nicht sie uns – beherrschen, müssen wir Regulierungen installieren, die sicherstellen, dass der Mensch die Kontrolle behält. Wir Menschen müssen wieder an uns glauben. Wir sind verletzliche, sterbliche Wesen, aber nur wir sind wirklich lebendig, nur wir können wirklich fühlen und lieben. Maschinen mit KI können nur simulieren, sie hätten Gefühle, sie haben sie aber nicht.
Bei welchem digitalen Spiel sind Sie schon einmal schwach geworden?
Bedingt durch meine Vorträge fahre ich oft Zug und sehe Menschen jeden Alters – überwiegend männlichen Geschlechts – alle Arten von Games spielen. Bei der Recherche für mein Buch „Realitätsverlust“ habe ich außerdem stundenlang neben Gamern gesessen und zugeschaut. Ob Sie es glauben oder nicht: Keines der Spiele hat mich gereizt. Stattdessen habe ich mich gewundert und mich gefragt, wie enttäuscht man vom realen Leben sein muss, um stundenlang auf einen Bildschirm zu starren oder auf einem Controller herumzuhacken, während draußen die Sonne scheint.
„Realitätsverlust“
In seinem für den NDR-Sachbuchpreis nominierten Buch „Realitätsverlust: Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen und die Menschlichkeit bedrohen“ beschreibt Joachim Bauer, warum reale Begegnungen, zwischenmenschliche Resonanz und analoge Präsenz für die Entwicklung des menschlichen Selbst, für unsere Gesundheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt unverzichtbar sind. So wird sein Buch zu einem Plädoyer für ein „neues Zeitalter der Aufklärung, für ein Aufbegehren gegen digitale Unmündigkeit“. Joachim Bauer: Realitätsverlust. Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen und die Menschlichkeit bedrohen. Heyne 2023. 22 Euro.