Wer davon ausgeht, die Digitalisierung sei irgendwann abgeschlossen, begeht einen großen Denkfehler. Das Gegenteil ist der Fall: Je weiter der Prozess fortschreitet, desto stärker verästelt er sich. Für die deutsche Vorgehensweise, die Sachen gerne abhakt, ist das ein Problem. Umso mehr ist ein Mindset gefragt, dass die transformative Dynamik immer weiter antreibt. Wohlwissend, dass dadurch die Lösungen entstehen, die Wirtschaft und Gesellschaft dringend benötigen. Ein Essay von André Boße
Was als „digitalisiert“ gilt und was nicht, darüber gibt es verschiedene Auffassungen. In manch einer Schule oder Hochschule gelten Unterrichtsstunden oder Seminare schon dann als „hybrid“, wenn Lehrkraft oder Dozent*in mit ihrem Smartphone die Tafel abfilmen und anschließend Arbeitsblätter mailen, die man sich zu Haus ausdrucken soll. Und nicht wenige Verwaltungen verkaufen digitale Offensiven mit der neuen Möglichkeit, Vor-Ort-Termine nun auch online organisieren zu können – häufig mit Hilfe von Tools, die Erinnerungen an das Zeitalter des Uralt-Betriebssystems MS-DOS von Microsoft wecken.
Digitalisierung: Daten und Gesellschaft
Um auf einen Nenner zu kommen: Was also bedeutet Digitalisierung überhaupt? Bettina Distel ist Wissenschaftlerin am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Informationsmanagement an der Universität Münster, in einem Aufsatz für die Schriftenreihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der Bundeszentrale für politische Bildung hat sie Digitalisierung wie folgt definiert: „Der Begriff der Digitalisierung bezieht sich einerseits auf die Umsetzung analoger Daten und Informationen in digitale Formate und andererseits auf die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die durch den Einsatz digitaler Informations- und Kommunikationstechnik entstehen.“ Ihr Text, erschienen im März 2022, trägt den Titel „Digitalwüste Deutschland? – Digitalisierung im internationalen Vergleich“. Beantworten will die Autorin darin die Frage, ob Deutschland tatsächlich in einer digitalen Krise steckt – eine Krise, die durch die Pandemie in absoluter Schonungslosigkeit offengelegt wurde, wie kritische Geister sagen. Haben diese Stimmen recht?
Digitale Spaltungen verlaufen in Deutschland sowohl entlang der Zugänglichkeit digitaler Infrastrukturen als auch entlang ihrer Nutzbarkeit für verschiedene Bevölkerungsgruppen.
Wie so oft, die Wahrheit liegt in der Mitte. Bewertet man die digitale Infrastruktur in Deutschland sowie die digitalen Kompetenzen der Bevölkerung, stehe die Bundesrepublik nicht so schlecht da, schreibt Distel. Jedoch gelte dies nicht für alle Teile der Bevölkerung im gleichen Maße: „Digitale Spaltungen verlaufen in Deutschland sowohl entlang der Zugänglichkeit digitaler Infrastrukturen als auch entlang ihrer Nutzbarkeit für verschiedene Bevölkerungsgruppen.“ So zeigte sich zum Beispiel, dass Menschen mit einem niedrigeren Bildungsgrad das Internet im Allgemeinen sowie zentrale digitale Services wie E-Learning- Angebote oder die Online-Beteiligung an demokratischen Verfahren „im EU-weiten Vergleich unterdurchschnittlich oft nutzen, während Bürger*innen mit einem hohen formalen Bildungsgrad dies überdurchschnittlich häufig tun“, schreibt Bettina Distel.
Krisensymptom: Transformation verliert an Dynamik
Deutscher Digitalisierungsindex: Von 100 auf 108
Das Bundesministerium für Klimaschutz und Wirtschaft ermittelt jährlich den Digitalisierungsindex der deutschen Wirtschaft, der anhand externer und interner Faktoren wie Prozessen und Produkten, Geschäftsmodellen und Qualifizierungen, technischer Infrastruktur oder rechtlichen Rahmenbedingungen erstellt wird – aus Sicht der Unternehmen. Lag dieser 2020 noch bei 100 Punkten, ist er 2021 auf 108 Punkte gestiegen, heißt es in der Langfassung der Ergebnisse im Report „Digitalisierung der Wirtschaft in Deutschland“, veröffentlicht Anfang 2022. Den stärksten Zuwachs verzeichne demnach die unternehmensinterne Kategorie der „Prozesse“; sie beschreibt neben dem digitalen Reifegrad der unternehmensinternen Prozesse auch die digitale Vernetzung mit anderen Unternehmen. Ihr Kategorienwert steigt auf 121,1 Punkte. Den größten Rückgang gab es im Bereich Qualifizierung. Dieser Wert sank von 100 auf 87,5. „Der Rückgang in der Kategorie Qualifizierung ist ein deutlicher Dämpfer für die Digitalisierung der Wirtschaft in Deutschland“, so ein weiteres Ergebnis. Digitale Souveränität sei die Voraussetzung für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, sie beinhalte die „Befähigung der Menschen, handlungs- und entscheidungsfähig mit digitalen Technologien umzugehen“. Diese könne aber nur gegeben sein, wenn die Beschäftigten regelmäßig hinsichtlich ihrer IT-Kompetenzen weitergebildet werden, „unabhängig davon, ob sie IT-Anwendende oder IT-Fachkräfte sind“.
Mit Blick auf die Wirtschaft stellt sie fest: „Trotz des voranschreitenden Ausbaus digitaler Infrastruktur in Deutschland liegt ihre Nutzung in deutschen Unternehmen häufig unter dem EU-weiten Durchschnitt.“ Zwar liege die Nutzung von Künstlicher Intelligenz und Big Data leicht über dem Durchschnitt, doch sei der Grad der Robotisierung und Automatisierung gegenüber anderen EU-Staaten geringer. „Berücksichtigt wurden in der Auswertung nicht nur die Nutzung relevanter digitaler Technologien (3D-Druck, Robotics, Cloud Computing) durch Unternehmen, sondern auch die Anwendung von Big-Data-Analysen, die Unterstützung betrieblicher Prozesse durch Software, die Bereitstellung elektronischer Rechnungen sowie Aspekte der digitalen Infrastruktur“, schreibt Bettina Distel über die Kategorien.
Ihr Urteil: Insgesamt bewege sich Deutschland im Mittelfeld, „doch zeigt die Analyse, dass gerade kleine und mittlere Unternehmen schlechter abschneiden“. Mehr noch: „Digitalisierung der Wirtschaft scheint an Dynamik zu verlieren.“ Spaltung und Verlust an Dynamik – wenn das keine Krisensymptome sind, was dann? Bettina Distel schreibt in ihrem Fazit, dass zum einen die digitale Transformation nicht zu mehr Ungleichheit führen dürfe, zum anderen nicht „als ein geschlossener Prozess“ verstanden werden dürfe, der mit einigen Strategien und Digitalpaketen zu bewältigen sei. „Sie ist vielmehr ein andauernder Prozess ohne klar definierte Start- oder Endpunkte.“
Haken dran und fertig? Klappt bei der Digitalisierung nicht
Gut möglich, dass genau hier ein sehr für Deutschland typisches Problem liegt: Staat, Wirtschaft und Gesellschaft haben es in der Moderne so g elernt, dass Prozesse durch bestimmte Maßnahmen abzuarbeiten sind. Das gilt für Reformen in der Politik, Neuorganisationen in Unternehmen, Wandlungen in der Gesellschaft: Die Deutschen, so scheint es, haben es gerne, wenn etwas ein festes Ende hat. Haken dran – fertig, weiter zur nächsten Aufgabe.
Die Veränderungsprozesse sind stetig, die Krisen werden chronisch. Abhaken? Kaum möglich.
Jedoch haben wir es seit einigen Jahren auf vielen Ebenen mit Herausforderungen anderer Art zu tun. Ob die Globalisierung oder die Digitalisierung, ob Krisen wie die Covid-19-Pandemie, die drohende Klimakatastrophe oder die Rückkehr des Angriffskriegs im Herzen Europas: Alle diese Entwicklungen scheinen kein klares Ende zu finden. Die Veränderungsprozesse sind stetig, die Krisen werden chronisch. Abhaken? Kaum möglich. Wie sehr es aber genau danach eine Sehnsucht gibt, zeigte die Corona-Pandemie mit ihrer häufig gestellten Leitfrage, wann denn eine Rückkehr zur Normalität möglich sei. Irgendwann wurde aus der Frage eine Forderung: Die Rückkehr müsse jetzt bald vollzogen werden. Als ob sich das Virus darum schere. Und machen wir uns nichts vor: Das Klima auf der Erde wird sich auch nicht darum scheren, ob die Menschheit ab einem bestimmten Punkt findet, jetzt sei es aber genug mit den Einschränkungen.
Lieferkette: Je tiefer der Einblick, desto mehr gibt’s zu tun
Wie die Politik und die Gesellschaft, so müssen auch die deutschen Unternehmen lernen, dass es die Normalität – wenn es sie denn überhaupt gab – nicht mehr geben wird. Insbesondere die Digitalisierung ist ein Fass ohne Boden. Mehr noch, sie ergibt überhaupt erst Sinn, wenn man sie als eine Entwicklung begreift, die kein Ende finden wird, die immer wieder aufs Neue Geschäftsmodelle, Prozesse und den Purpose des Unternehmens auf den Prüfstand stellt. Ein gutes Beispiel dafür ist der Blick auf die Lieferkette: Unternehmen, die es mit dem Klimaschutz und den Menschenrechten ernst nehmen, analysieren jetzt ihre Supply-Chains, um Teile zu identifizieren, in denen Defizite offensichtlich werden. In der Folge werden Geschäfte mit langjährigen Partner-Unternehmen hinterfragt, manchmal sogar beendet. Betrachtet man jedoch die Komplexität von Liefer- und Wertschöpfungsketten zum Beispiel von digitalen Geräten oder auch Dienstleistungen, wird schnell deutlich, dass es sich auch hier um eine Aufgabe unendlichen Ausmaßes handelt.
Digital Economy & Society Index
Wo steht die Bundesrepublik im europäischen Vergleich? Der Digital Economy & Society Index der Europäischen Kommission vergleicht seit 2014 die Daten der EU-Länder und bewertet zum Beispiel den Stand der Staaten in Sachen Konnektivität, Internetnutzung oder Integration digitaler Technologien. EU-weit liegt der Index bei 50,7; Deutschland verzeichnet den Wert 54,1 und liegt damit im EU-Ranking auf Platz elf. Ein großes Defizit laut Zusammenfassung des deutschen Ergebnisses: Weniger als ein Drittel der Unternehmen (29 %) tauschten Informationen auf elektronischem Wege aus, nur 18 Prozent der kleinen oder mittleren Unternehmen (KMU) stellten elektronische Rechnungen aus. „Bei beiden Indikatoren hat Deutschland in den letzten Jahren kaum Verbesserungen erzielt.“
Um das zu verdeutlichen, ein Sprung in die fraktale Geometrie: Der Mathematiker Benoît Mandelbrot machte 1968 mit einem Aufsatz auf sich aufmerksam, in dem er die banale Frage stellte, wie lang die Küste Großbritanniens sei. Seine Antwort: Kommt drauf an. Arbeitet man mit Mess-Abschnitten von 200 Kilometern, ergibt sich eine Gesamtlänge von rund 2350 Kilometern. Nutzt man 100-Kilometer-Abschnitte, kommt man auf 2775 Kilometer, sind die Mess-Abschnitte nur 50 Kilometer lang, ergeben sich 3425 Kilometer. Kurz gesagt: Je kleinteiliger man misst, desto mehr Küstenstrecke ergibt sich. Betreiben kann man dieses Mess-Spiel bis in die Unendlichkeit. Ganz ähnlich ist es bei Analyse der Lieferketten von komplizierten Produkten: Digitale Tools, die mit ihrer Untersuchung immer weiter in die Tiefe gehen, werden in den Supply-Chains immer neue dunkle Ecken oder zumindest Graubereiche finden. So ambitioniert das Nachhaltigkeitsmanagement eines Unternehmens im Verbund mit seinen Digital-Expert*innen auch an der „Optimierung von Lieferketten“ arbeiten mag – der Prozess endet nie.
Digitales Mindset der Fachkräfte nutzen
Wer als Nachwuchskraft in Unternehmen startet, hat echte Vorteile, wenn man dieses Mindset mitbringt und in die Teams einbringt. Digitalisierung ist kein Schalter, der eines Tages umgelegt sein wird. Digitalisierung ist gekommen, um zu bleiben. Was sich daher entwickeln muss, ist ein besseres „digitales Ökosystem“, wie Florenz Kasen, Digital-Spezialist beim Personalberatungsunternehmen TechMinds, schreibt. In seinem Fachbeitrag „Digitalisierung in Deutschland. Wie digital sind wir 2022?“, abzurufen auf der TechMinds-Homepage, stellt er fest, dass das heimische digitale Ökosystem starke Defizite verzeichnet: „Die schlechte Verfügbarkeit von Risikokapital ist in Deutschland im internationalen Vergleich deutlich stärker ausgeprägt – es wird kaum in junge Startups investiert.“ Dazu komme, dass die deutsche Bevölkerung grundsätzlich eher negativ gegenüber unternehmerischen Risiken eingestellt ist. „Zudem werden viel zu selten die Kompetenzen der verfügbaren Informations- und Kommunikations- Fachkräfte genutzt – hier liegt Deutschland ganz klar unter dem europäischen Durchschnitt.“
Der Fachkräftemangel wird nicht ansatzweise ausreichend bekämpft.
Verstärkt werde das Problem durch den Fachkräftemangel im IT-Sektor: „Der Fachkräftemangel wird nicht ansatzweise ausreichend bekämpft“, urteilt Florenz Klasen. Um die Digitalisierung in Angriff nehmen zu können, müssten nicht nur IT-Professionals aus dem Ausland rekrutiert werden, sondern auch einheimische Talente gefördert werden. „Deshalb sollte schon an den deutschen Schulen, Berufsschulen und Hochschulen eine bessere digitale Infrastruktur sowie Pädagogik etabliert werden“, fordert er. Das sei nicht nur wichtig für die Wirtschaft, sondern auch für die Gesellschaft. Seine These: „Digitale Rückständigkeit hinterlässt die Bürger müde und wütend.“ Die Digitalisierung Deutschlands ist also längst nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein gesellschaftliches Projekt. Wer es – ob in großen Unternehmen, dynamischen Start-ups oder Behörden – voranbringt, erfüllt einen Job mit einem Purpose, der weit über das Geldverdienen hinausgeht.
Bevölkerung setzt auf Zukunftstechnologie
Der „Digitalreport 2022“ des European Center for Digital Competitiveness zeigt, dass die deutsche Bevölkerung weder unbeteiligt noch pessimistisch, sondern größtenteils erwartungsvoll auf die digitale Innovationen schaut. Bei der Frage, welche Zukunftstechnologien große Bedeutung erlangen werden, nennt eine große Mehrheit der Befragten Drohnen, 3D-Drucker und Künstliche Intelligenz, gefolgt von Technologien, die autonomes Fahren, besseren Klimaschutz sowie Unterstützung bei der Pflege ermöglichen. „Die junge Generation ist generell bei allen Technologien überdurchschnittlich überzeugt, dass sie in Zukunft große Bedeutung haben werden“, heißt es im „Digitalreport 2022“.