Leistungsfähige IT-Strukturen können smarte Konzepte für den Klimaschutz entwickeln. Was nicht verdrängt werden darf: Mit der Datenmenge steigt auch der CO2-Abdruck digitaler Prozesse. IT ist so clean, wie es den Anschein hat. Die beiden Lösungsansätze: Ein Bewusstsein fürs Datensparen sowie ein Green-High-Performance- Computing, das Leistung und Effizienz zusammenbringt. Ein Essay von André Boße
Es geht wieder los: Nach der langen pandemiebedingten Pause nimmt das Konzert-Business wieder Fahrt auf. Endlich wieder Konzerte und Festivals. Die Phase der Stille nimmt ein Ende. Wird also alles wieder so, wie es früher war? Wohl kaum. Denn auf der Bühne und im Publikum steht ein rosa Elefant. Ein Thema, dass sich auch bei rauschenden Konzerterlebnissen nicht ignorieren lässt: Die Pop- und Rockmusik positioniert sich gerne pro Klimaschutz, auf der anderen Seite jedoch erzeugen vor allem große Live-Tourneen und Festivals einen riesigen CO2-Fußabdruck.
Rückkehr der Kultur – gerne mit smarter IT
Tonnenschwere Bühnentechnik muss in Trucks von A nach B transportiert werden, Bands jetten in Flugzeugen über die Kontinente, das Publikum ist vielfach in Autos unterwegs. Die englische Band Massive Attack – seit Jahren im Klima- und Umweltschutz aktiv – hatte bereits 2019 bei Wissenschaflter* innen eine Studie in Auftrag gegeben, um Maßnahmen für ein „Grünes Tour-Leben“ zu entwickeln; 2021 hat die Band nun, mit Blick auf den Neustart nach der Pandemie, um ein Update gebeten: Was muss sich ändern, damit Bands, die sich für mehr Klimaschutz einsetzen, das Problem nicht noch zusätzlich verschärfen?
„Super-Low Carbon Live Music“ heißt das Positionspapier, dass die Klimaforscher*innen des Tyndall Centre for Climate Change Research im Juni vorgelegt haben. Es gibt eine Roadmap für notwendige Verbesserungen vor: besseres Energiemanagement in den Hallen und auf Open- Air-Bühnen, kluge Mobilitätskonzepte für Bands, Technik und Publikum, ein nachhaltiges Angebot sowie Liefer- und Recyclingkonzepte für Essen, Getränke und Merchandise. Ein Begriff, der in diesem Papier häufig auftaucht, ist der des „Understanding“: Die Live-Branche mit ihren Akteur*innen müsse zunächst einmal „verstehen“, in welchen Bereichen Emissionen verursacht werden und wo die Zusammenhänge liegen. Auf Daten kommt es also an. Gefragt sind also ITMethoden: digitales Energiemanagement, smarte Logistikund Mobilität, Bewegungs- und Konsumanalysen, wirkungsvolle Recycling-Systeme – der Livemusik-Branche fehlt es nicht an gutem Willen. Wohl aber – noch – an den IT-Prozessen, um zu verstehen, was alles möglich ist.
Mit Quantencomputer gegen die Klimakrise
Mitte Juni weihten die Forscher*innen des Fraunhofer Instituts zusammen mit IBM im schwäbischen Ehningen den bisher leistungsfähigsten Quantencomputer in Deutschland ein. In einer Pressemitteilung wird Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, mit dem Satz zitiert: „Wer Quantentechnologien beherrscht, beherrscht die zwei Megatrends unserer Zeit: Digitalisierung und Dekarbonisierung.“ Dr. Hannah Venzl, Koordinatorin des Fraunhofer-Kompetenznetzwerks Quantencomputing, konkretisiert in einer Pressemeldung: „Quantencomputing eröffnet neue Möglichkeiten für Industrie und Gesellschaft. Medikamente und Impfstoffe lassen sich mithilfe dieser Technologie schneller entwickeln, Klimamodelle verbessern, Logistik- und Transportsysteme optimieren oder neue Materialien effizienter simulieren.“ Quantencomputer gelingt dies mit Hilfe der Qubits, die anders als Bits Eigenschaften der Quantenmechanik besitzen, zum Beispiel die Fähigkeit der Superposition: Für eine bestimmte Zeit können Qubits unendlich viele Zustände gleichzeitig annehmen.
So gesehen ist der Ansatz von ABBA absolut zukunftsfähig: Nach fast 40 Jahren meldete sich eine der größten Pop-Bands aller Zeiten überraschend zurück, zunächst mit zwei neuen Songs, dann mit einem Album, ab 2022 auch mit Konzerten. Diese finden aber nicht als Tour statt, sondern in einer speziell für diesen Anlass erbauten ABBA-Arena in London für 3000 Menschen – wobei nicht die Musiker*innen von ABBA auf der Bühne stehen, sondern digital erstellte Avatare. Ob dieser Event-Ansatz tatsächlich den Klimaschutz fördert, muss erst analysiert werden. Was sich auf jeden Fall zeigt: IT bricht verstärkt in Bereiche vor, in denen bis vor wenigen Jahren die körperliche Anwesenheit von Menschen der Standard war. Bestes Beispiel sind Business-Meetings: Die Pandemie hat den virtuellen Begegnungen einen großen Boost gegeben. Es ist offensichtlich, dass es dem Klimaschutz dient, wenn für geschäftliche Treffen nicht mehr mehrere Personen per Flugzeug zu einem Ort fliegen, sondern diese digital abgehalten werden. Doch sind auch IT-getriebene Begegnungen nicht clean. Ihre klimaschädlichen Effekte werden jedoch häufig übersehen.
Man bräuchte einen Wald doppelt so groß wie Portugal
Mit „The overlooked environmental footprint of increasing Internet use“ haben sechs Forscher*innen von amerikanischen und britischen Universitäten eine Studie vorgelegt, die sich den Anspruch gegeben hat, den unsichtbaren „Schmutz“ der Digitalisierung aufzudecken. Die Ausgangslage: Covid-19 hat dafür gesorgt, dass die Internetzeit global in hohem Maße angestiegen ist; die Studie besagt, dass je nach Land die Internet- Nutzung zwischen 15 und 40 Prozent gestiegen ist. Den mit Abstand größten Anteil am übers Netz geschickten Datenvolumen nimmt mit 16 Gigabytes pro Stunde das Video-Streaming ein, dahinter folgen mit 3,2 Gigabytes pro Stunde die Video-Calls.
CO2-Ausstoss beim Streaming
Video-Streaming florierte schon vor der Pandemie, durch Corona erhöhten sich die weltweiten Abrufzahlen noch einmal. Dass dabei gigantische Datenmengen transferiert werden, liegt auf der Hand. Häufig sogar in hoher Bildqualität, mit Auswirkungen auf die CO2-Emissionen: Für ihre Studie „The overlooked environmental footprint of increasing Internet use“ haben die Forscher*innen errechnet, dass Streaming in Ultra-HD pro Stunde sieben Gigabytes benötigt. Das ergibt in dieser Zeit 441 Gramm CO2. Wer pro Tag vier Stunden schaut, stößt damit im Monat 53 Kilogramm CO2 aus. Ein Click reicht aus, um diese Menge deutlich zu reduzieren: Laut Studie sinken die Emissionen auf 2,5 Kilogramm CO2 pro Monat, wenn Nutzer*innen die Bild-Qualität auf Standard setzen. Folgen 70 Millionen Streamer dieser Idee, ergebe sich eine monatliche Einsparung von 3,5 Millionen Tonnen – das entspricht, laut der Studie dem CO2-Fußabdruck von sechs Prozent der Kohlenutzung der USA.
Die Folge: „Der globale Anstieg der Internet- Nutzung in Folge von Covid-19 benötigt pro Jahr bis zu 42,6 Millionen Megawattstunden zusätzlichen Strom für den Betrieb der Datencenter sowie die Übertragung“, heißt es in einem Papier, in dem die Forscher*innen ihre Studienergebnisse veröffentlicht haben. Damit sei die Internet-Nutzung jährlich für 3,2 Millionen Tonnen CO2-Emissionen verantwortlich, hinzu kommen noch 1,8 Billionen Liter Wasser sowie 100 Million Quadratmeter Fläche, die für die Produktion dieses Stroms benötigt werden. Da diese Zahlen den Vorstellungsrahmen sprengen, haben die Studienautor*innen sie mit konkreten Bildern verknüpft: „Um diesen Anstieg auszugleichen, benötigte man einen Wald doppelt so groß wie Portugal, um das emittierte CO2 zu kompensieren. Das benötigte Wasser hat eine Menge, mit der man 317.200 olympische Swimming- Pools füllen könnte. Der Land-Fußabdruck hat ungefähr die Größe von Los Angeles.“
Lösung und Problem in einem
Die IT ist zweierlei: Lösungs-Tool und Problem-Verschärfer. Man sollte diese Dualität jedoch nicht als Dilemma verstehen, sondern als Auftrag, auf der einen Seite die Lösungen zu implementieren, auf der anderen Seite dafür zu sorgen, dass IT-Strukturen grüner, nachhaltiger, klimafreundlicher werden. Funktionieren kann dies bereits durch einfache und konkrete Maßnahmen, zum Beispiel mit einem bewussten Umgang mit der Kamera bei Video-Meetings: Für die Studie haben die Forscher*innen errechnet, dass eine Person, die pro Woche an 15 einstündigen Video-Meetings teilnimmt, damit monatlich 9,4 Kilogramm CO2 ausstößt. „Ganz einfach die Video-Funktion auszuschalten, würde die monatlichen Emissionen auf nur noch 377 Gramm CO2 reduzieren“, heißt es in der Studie. Der wirksame Effekt der kleinen Maßnahme wird deutlich, wenn man diesen Effekt auf eine Million Video-Konferenz- Nutzer*innen hochrechnet: „Würden sie alle diese Veränderung vornehmen, würden sie zusammen pro Monat 9023 Tonnen CO2-Ausstoß vermieden, das entspricht den Emissionen, die anfallen, wenn man eine Stadt mit 36.000 Einwohnern einen Monat lang mit reiner Kohle-Energie versorgen würde.“ Es lohnt sich also durchaus, als Nachwuchskraft – und mit solchen Zahlen als Beleg – im Unternehmen Impulse zu geben, bei der IT-Nutzung auf Daten-Sparsamkeit zu achten.
Green-High-Performance-Computing: Power trifft Klimaschutz
Doch solche kleinen Kniffe werden nicht reichen. Was darüber hinaus benötigt wird, ist die große Lösung eines Green- High-Performance-Computing. Einer IT-Infrastruktur also, die optimale Leistung mit grüner Bilanz kombiniert. Was diese leisten muss, darüber diskutieren seit Ende März dieses Jahres Expert*innen und Studierende im vom Hasso-Plattner-Institut (HPI) initiierten „clean-IT Forum“, abrufbar auf der Plattform openHIP. „Zwar sind digitale Technologien unverzichtbar, um den klimaschädlichen Kohlenstoffausstoß zu vermindern und die weltweiten Nachhaltigkeits-Ziele zu erreichen, aber die Informationstechnologie selbst benötigt derzeit noch zu viel Energie“, wird HPI-Direktor Prof. Christoph Meinel in einer Pressemeldung zum Start der Initiative zitiert. Das Ziel: Bei einer immer stärkeren Digitalisierung müsse verhindert werden, dass sie das Klima selbst negativ beeinflusse. Wie das gelingen kann? HPI-Direktor Meinel stellt in der Pressemitteilung eine Forderung: „Wissenschaft und Politik sollten strategische Prioritäten setzen, damit zum Beispiel effizientere Algorithmen entwickelt und eingesetzt werden.“
Energiebedarf von Rechenzentren
Der Energiebedarf von Rechenzentren in Europa ist laut dem Borderstep Instituts zwischen 2010 und 2020 um 55 Prozent stark gestiegen, von rund 56 auf rund 87 Terawattstunden pro Jahr. Der Großteil dieses Bedarfs entsteht in Nord- und Westeuropa. Hier befinden sich die meisten Datenzentren in der EU. Cloud Computing ist im Jahr 2020 für 40 Prozent des Energiebedarfs der Rechenzentren verantwortlich. Bis zum Jahr 2025 wird dieser Anteil voraussichtlich auf 60 Prozent ansteigen. „Rechenzentren werden durch verbesserte Hardware, Software und Rechenzentrumsinfrastrukturen immer effizienter“, stellt Dr. Ralph Hintemann, Senior Researcher und Digitalisierungsexperte am Borderstep Institut fest. „Leider ist es aber in der Vergangenheit trotzdem nicht gelungen, den Anstieg im Energiebedarf insgesamt zu senken. Die zunehmende Digitalisierung und insbesondere der Trend zu immer mehr Cloud Computing führen dazu, dass der Energiebedarf der Rechenzentren kontinuierlich ansteigt.“ Quelle: www.borderstep.de
Der Anspruch: „Sustainability by Design“
Zum zentralen Prinzip von IT-Systemen müsse weltweit „Sustainability by Design“ sein, mit dem Ziel, „das Bewusstsein für den globalen Energie-Fußabdruck von IT-Systemen zu schärfen“, so Meinel laut Pressemeldung. Mittlerweile hat das Forum Ansätze für diesen Wandel definiert. Dazu zählen zum Beispiel „schlanke, simple und sorgsam designte Algorithmen“, wie es auf der Internetseite mit den Zwischenergebnissen des „clean-IT-Forums“ heißt: „Da CO2-Emissionen und Energieverbrauch in Computersystemen immer von Zeit und Aufwand der Computing-Prozesse abhängen, ist es unbedingt wichtig, Computerprogramme möglichst effizient zu gestalten, damit sie spezifische Aufgaben innerhalb eines qualitativen Rahmens ausführen.“
Im Blickpunkt des Austausches für klimafreundliche und dennoch maximal leistungsfähige IT-Systeme steht auch die Künstliche Intelligenz: Einerseits besitzen KI-Prozesse eine große Bedeutung, wenn es darum geht, technische Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel zu finden. Andererseits sei gerade das Konzept des Deep Learning aufwändig: „Die modernsten KI-Modelle zu trainieren und laufen zu lassen, basierend auf tiefen neuronalen Netzwerken, benötigt riesige Mengen strukturierter Daten und hunderttausende Layers.“ Ein wirksames neuronales Netzwerk zu trainieren, so die Berechnung der Expert*innen vom HPI, könne so viel CO2 ausstoßen wie der gesamte Lebenszyklus von fünf Autos, inklusive Benzin. „Um den Nutzen der KI zu gewährleisten, ohne dabei den Planeten zu zerstören, müssen zwingend neue Trainings- Techniken gefunden werden, die weniger Daten-Input sowie Computing-Leistungsfähigkeit benötigen – und damit deutlich weniger Energie.“ Klar wird: Wer heute IT-Strukturen und -Methoden weiterentwickelt, muss neben der Leistungsfähigkeit auch die Nachhaltigkeit auf der Agenda haben. Die Zukunft der Digitalisierung steht nicht nur für immer mehr Power, sondern auch für mehr Klimaschutz.
Buchtipp
Die Grüne Null
Die Erderhitzung brennt uns plötzlich allen auf den Nägeln. Dürre in Deutschland, Waldbrände und schmelzendes Eis in aller Welt, der Erfolg der „Fridays for Future“, eine neue EU-Politik und ein Machtwort des Bundesverfassungsgerichts machen deutlich: Wir müssen mehr tun. Bis 2045 soll Deutschland klimaneutral sein. Das heißt: Wir dürfen nicht mehr Treibhausgase ausstoßen, als wir aus der Atmosphäre binden. Unsere Emissionen müssen praktisch auf null. Was technisch klingt, ist eine Herkulesaufgabe für Wirtschaft und Politik: Wir müssen Industrie, Verkehr, Energiesystem, Ernährung und Lebensstile umstellen – und das in nur einer Generation, am besten noch schneller. Bernhard Pötter: Die Grüne Null. Piper 2021, 20 Euro