Wirtschaftsphilosoph Anders Indset plädiert für ein neues „Betriebssystem“ für den Kapitalismus. Die Philosophie wird bei der Implementierung eine wesentliche Rolle einnehmen. Denn es wird immer mehr darum gehen, alles zu hinterfragen. Die Fragen stellte Christoph Berger
Herr Indset, warum muss Wirtschaft neu gedacht werden?
Weil die „Old Economy“ tot ist und die „New Economy“ ebenso. Das Versprechen der 1990er-Jahre, es könne Ferraris und Yachten für alle geben, hat sich doch mittlerweile selbst entlarvt. Turbo-Kapitalismus und Hyper-Konsum führen zu einer Zerstörung unserer Lebensgrundlage. Zudem folgt auf die rapide Entwicklung der exponentiellen Technologien ein „Winner-Takes-It-All“-Szenario. Wir brauchen eine stabile Wirtschaft, um gesellschaftliche Stabilität zu bewahren. Also brauchen wir ein neues „Betriebssystem“, wir müssen neue Wege finden. Es folgt die „Q Economy“, oder eben die Quantenwirtschaft.
Wie kann es zu diesem neuen Denken kommen, sind wir nicht alle zu sehr von den Systemen geprägt, in denen wir seit Jahrzehnten leben?
Wir sind von den Systemen sehr geprägt, das ist richtig. Wir reagieren nur noch, wenn die Krise eintrifft, so war es immer. Wir können uns allerdings nicht mehr erlauben, nur noch zu reagieren, also müssen wir den Weg zu unseren Gefühlen und das Gespür und vor allem das Verständnis dessen was wir machen, auf anderen Wegen bekommen. Die junge Generation bringt eine gesunde Naivität mit und ist nicht vorbelastet, verfügt auch über ein höheres Bewusstsein über unsere bevorstehenden Herausforderungen. Die ältere Generation setzt auf die Fortschritte der Technologie und auf Innovationen. Dies ist aber nur ein Teil des benötigten Wandels. Wir brauchen auch eine neue Sichtweise auf die Dinge – und das erfordert, nachzudenken. Zeit fürs Nachdenken sowie Neugierde und echtes Interesse führen uns langsam hin zu einer Art Bewusstseinsevolution. So können auch die Führungskräfte und Politiker aus den alten Systemen ausbrechen.
Sie sagen, dass der Kapitalismus an sich kein schlechtes Modell ist, sind gleichzeitig aber auch davon überzeugt, dass wir auf ein neues Level im Kapitalismus steigen müssen. Können Sie dieses neue Level beschreiben, wie sieht Ihr weiterentwickelter Kapitalismus aus?
Wir brauchen einen Humanistischen Kapitalismus, denn wir stehen vor existenziellen Herausforderungen. Zum einen muss alles unendlich gedacht werden. Unendliche Nutz- und Wiederverwendbarkeit ist heute ein Muss. Wir brauchen eine perfekte Kreislaufwirtschaft, eine singuläre Unendlichkeit. Denn die Menschen werden sich von „Verbrauchern“ zu „Gebrauchern“ entwickeln. Wir benötigen außerdem neue Formen der Zusammenarbeit. Kooperenz – also Kollaboration und Konkurrenz (gesunde Rivalität) – ersetzt das Gewinnen und Verlieren (endliches Denken). Ferner brauchen wir komplett neue Modelle wie etwa eine Kapitalisierung auf Vital-Energie. Die Frage ist: Wie kann es uns gelingen, wirtschaftliche Modelle basierend auf Verstand, Mitgefühl und Liebe zu entwickeln? Es geht darum, einen Kapitalismus aufzubauen, der nicht nur auf die untere Stufe der „Maslowschen Bedürfnispyramide“ ausgelegt ist und Wohlstand nicht nur auf unseren Kontostand reduziert.
Wie kann die Digitalisierung auf diesem Weg dorthin unterstützen?
Alleine kann sie das nicht, denn sie hat ja keine eigene Agenda. Wir müssen uns Klarheit darüber verschaffen, was wir überhaupt unter dem Begriff „Digitalisierung“ verstehen.
Meinen wir eine Umwandlung von analogen Werten in Binäres, also 0 und 1 – was ja per se nichts bewirkt, sondern nur durch Automatisierung oder Technologie zum Leben gebracht wird – oder sprechen wir etwa von einer Umwandlung von Atomarem (Physischem) in Virtuelles? Egal wie wir es definieren, in beiden Fällen gibt es keine Grenzen. Alles ist also vorstellbar und zumindest in der Theorie möglich. Wir müssen uns fragen, welche Zukunft für uns erstrebenswert ist. Wenn wir uns darüber klar werden, kann uns Technologie dabei helfen, viele Bereiche im Leben zu vereinfachen und womöglich unser Leben besser, gerechter und mit einer besseren Verteilung der Ressourcen zu gestalten.
Und wie bewerten Sie die Rolle der Philosophie als Begleiterin auf diesem Weg?
Die philosophische Kontemplation halte ich für wesentlich. Wir müssen lehren zu lernen und lernen zu lehren. Nur wenn wir zu neuem Wissen oder plausiblen Erklärungen gelangen, wird es organisiertes Menschenleben über die nächsten Generationen hinaus noch geben. Ich bin davon überzeugt, dass es in weniger als zehn Jahren auch einen CPO (Chief Philosophy Officer) im Unternehmen geben wird. Was wir heute brauchen sind Menschen, die im Unternehmen in der Lage sind, alles zu hinterfragen. Wer Dinge aus einer anderen Perspektive beleuchtet, kann durch Kollaboration, Dialoge und Ko-Kreationen und mit philosophischer Methodik zum Fortschritt gelangen. Für mich ist die Philosophie etwas Praktisches – also etwas, das wir tun.
Bleibt der Mensch: Was ist und wird seine Aufgabe sein?
In Sachen Bewusstsein haben wir viele Theorien, jedoch keine, die uns annähernd eine Antwort darauf liefert, warum wir subjektive Erlebnisse haben. Heißt: Warum es sich nach irgendetwas anfühlt, wie es ist, etwas zu sein. Wir verstehen mehr und mehr über unseren Körper und wie unser Gehirn und Neuronen reagieren, wissen aber auch aus Neurowissenschaften und der Psychoanalyse, dass es nicht das eine „ICH“ gibt. Der Mensch ist mehr als die dualistische Sichtweise von Körper und Geist und wir sind nicht eine Algorithme der Informationsbearbeitung, welche wir irgendwann „knacken“ werden. Wir stehen vor einer Intelligenz-Explosion, doch vielleicht ist Intelligenz nicht genug? Wenn wir Intelligenz über das Bewusstsein hinaus kreieren und nicht wissen, was Bewusstsein ist, könnte das womöglich fatale Folgen haben.
Die Aufgaben für die Menschen in der Zukunft definieren wir also selbst. Wir können jetzt „zukünften“. Würden wir unbewusst eine digitale Superintelligenz gestalten, würden wir uns selbst überflüssig machen (Homo Obsoletus) oder wir würden unsere Lebensgrundlage zerstören. Wir müssen uns also fragen, welche Zukunft für uns erstrebenswert ist. Was wollen wir? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir zunächst ein größeres Verständnis von uns selbst. Und wir brauchen dafür Querdenker aller Disziplinen.
Ihr Buch trägt den Titel „Quantenwirtschaft“. Wollen Sie damit ausdrücken, dass alles mit allem zusammenhängt und in Wellen abläuft?
Wir leben in einer Quantenrealität, auch wenn das viele in der wahrgenommenen physischen Wirklichkeit nicht so erkennen. Die Wirtschaft ist in ihrem Kern der Quantenphysik ähnlicher als die linearen Modelle, Hierarchien und Strukturen, auf denen wir alles aufbauen. Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel und eher chaotisch und merkwürdig. Die Welt besteht aus Wellen und Partikeln und kann das eine oder das andere sein. Wir leben in einer Parallelgesellschaft, einer Gleichzeitigkeitsgesellschaft – und erleben Niedergang und Blüte.
Anders Indset ist einer der weltweit führenden Wirtschaftsphilosophen und ein vertrauter Sparringspartner für internationale CEOs und politische Führungskräfte. Thinkers50, das führende Ranking der globalen Wirtschaftsdenker, das von vielen als „Oscar der Managementdenker“ angesehen wird, hat Anders auf dem „Radar 2018“ als einen von 30 Global Thinkern anerkannt, „der die Zukunft der Unternehmensführung nachhaltig gestalten wird“. www.wirtschaftsphilosoph.com
Anders Indset: Quantenwirtschaft. Econ 2019, 22 Euro (Amazon-Werbelink)