Seit einigen Jahren beginnen die Physiker zu realisieren, dass die Quantenphysik einen bedeutenden Vorrat an noch nicht ausgeschöpften technologischen Möglichkeiten besitzt. Wir stehen am Anfang einer weiteren atemberaubenden technologischen Entwicklung: einer zweiten Quantenrevolution, sagt Gastautor Lars Jaeger – Unternehmer, Wissenschaftler, Schriftsteller und Finanztheoretiker.
Der Siegeszug der Quantenphysik begann in den ersten Monaten des 20. Jahrhunderts mit der Beobachtung, dass auf atomarer Ebene bestimmte Größen nicht jeden beliebigen Wert annehmen können. Sie sind in sogenannten Quanten (lateinisch „quantum“ = so viel) abgepackt. Kurz darauf erkannten die Physiker, dass Licht und Materie einmal als Welle, ein anderes Mal als Teilchen kommen. Doch wie kann ein räumlich lokalisiertes Teilchen gleichzeitig eine räumlich ausgedehnte Welle sein?
Die Physiker mussten lernen, dass Quantenobjekte mehrere Zustände gleichzeitig aufweisen können, beispielsweise zum gleichen Zeitpunkt an verschiedenen Orten sein. Außerdem lassen sich die Eigenschaften von Quantenobjekten nur mit Wahrscheinlichkeiten angeben: Messergebnisse sind vom Beobachter abhängig, und ihre Zustände zerfallen außerhalb jeglicher Zeit. Das merkwürdigste aller Quantenphänomene ist jedoch die Verschränkung räumlich getrennter Teilchen. Selbst wenn sie weit voneinander entfernt sind, können zwei Teilchen aneinander gekoppelt sein. Doch trotz all dieser Unwägbarkeiten sagt die heutige Quantentheorie den Ausgang von Experimenten und Naturgeschehnissen mit einer in der gesamten Wissenschaft unübertroffenen Exaktheit vorher.
Weil wir immer exakter berechnen können, was sich auf atomarer Ebene abspielt, beherrschen wir den Mikrokosmos immer besser. Längst sind Anwendungen der Quantenphysik Bestandteil unseres Lebens geworden: Elektronik, Digitaltechnologien, Laser, Mobiltelefon, Satelliten, Fernseher, Radio, Nukleartechnik, die moderne Chemie, medizinische Diagnostik – all diese Technologien gründen sich auf den Gesetzen der Quantentheorie. Nach verschiedenen Schätzungen beruht heute zwischen einem Viertel und der Hälfte des Bruttosozialprodukts der Industrienationen direkt oder mittelbar auf Erfindungen mit quantentheoretischer Grundlage. Doch die Quantenphysik hält noch weitere technologische Möglichkeiten bereit. Quantenphysiker sagen voraus, dass wir am Anfang einer weiteren technologischen Entwicklung stehen: einer zweiten Quantenrevolution.
Was macht diese zweite Quantenrevolution aus? Physikalisch gesehen beruht die erste Quantenrevolution des 20. Jahrhunderts auf der Kontrolle des Verhaltens großer Ensembles von Quantenteilchen: der Steuerung des Flusses vieler Elektronen, der gezielten Anregung einer großen Anzahl von Photonen und der Messung des Kernspins massenhafter Atome. Bei der zweiten Quantenrevolution geht es um etwas ganz Neues: die gezielte Präparation, Kontrolle, Manipulation und nachfolgende Auslese der Zustände einzelner Quantenteilchen und ihre Wechselwirkungen miteinander.
Die aufregendste Technologie der zweiten Quantenrevolution ist der Quantencomputer, der heutige Computer um ein Millionenfaches überbieten könnte, was Schnelligkeit und Recheneffizienz angeht. Ein Quantencomputer arbeitet anders als herkömmliche Computer. Diese verwenden als kleinstmögliche Informationseinheiten „Bits“, die entweder den Zustand 1 oder 0 haben, also nur zwei Werte annehmen können. Mit diesen separaten Bits können die Rechenschritte nur sequenziell, also Bit für Bit abgearbeitet werden. Quantencomputer unterliegen dagegen einer völlig anderen Informationstheorie: Das einfachste System in der Quantenmechanik ist das Quantenbit („Qubit“). Qubits können beide Zustände, 0 und 1, simultan annehmen, sowie alle Zwischenwerte (und noch mehr in der Sphäre der komplexen Zahlen). Denn Quantenzustände können in sogenannten Superpositionen existieren, also in Überlagerungen sich klassisch gegenseitig ausschließender Zustände.
Dazu kommt, dass sich verschiedene Quantenteilchen in verschränkte Zustände bringen lassen: Es ist, als ob die Qubits mit einer unsichtbaren Feder aneinandergekoppelt sind und somit allesamt direkt in Kontakt miteinander stehen. Jedes Quantenbit „weiß“, was die anderen gerade treiben. Anders als in herkömmlichen Computern erhöht sich damit die Rechenleitung eines Quantencomputers exponentiell mit der Anzahl der eingesetzten Qubits. Die Leistung eines Quantencomputers verdoppelt sich also nicht erst, wenn zu 100 Qubits weitere 100 Qubits hinzugeschaltet werden, sondern bereits, wenn nur ein einziges Qubit zu den 100 Qubits hinzugefügt wird. Kommen 10 dazu, vertausendfacht sich seine Leistung, bei 20 neuen Qubits ist der Quantencomputer bereits eine Million Mal so schnell, bei 50 neuen Qubits eine Million Milliarden Mal. Und bei 100 neuen Informationsträgern, wenn sich die Leistungsfähigkeit eines klassischen Computers gerade mal verdoppelt hat, lässt sich die Erhöhung der Leistungsfähigkeit eines Quantencomputers kaum mehr in Zahlen benennen.
Noch reichen die Bemühungen der Quantenphysiker nicht aus, um zuverlässig funktionsfähige Quantencomputer zu bauen. Doch haben Firmen wie IBM und Google in den letzten Monaten angekündigt, Quantenprozessoren gebaut zu haben, die aus ausreichend vielen Qubits bestehen, dass sie – zumindest für einige sehr spezielle Rechenprobleme – wohl die Rechenkapazität eines jeden heutigen (klassischen) Superrechners übertreffen werden. Google hatte bereits 2017 angekündigt, diese zum Ende desselben Jahres zu erreichen. Noch ist davon nichts bekannt geworden.
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