„Unspektakulär und arbeitsintensiv“ nennt Ingrid Schmidt ihren Arbeitstag, der jeden Morgen um 7:30 Uhr beginnt. Auf dem Weg zum Gericht plant sie ihn durch. Für ihre berufliche Zukunft hat die Richterin hingegen seit ihrer Zeit am Sozialgericht keine Pläne gemacht. Dennoch führte ihr Weg gradlinig auf das Präsidentinnenamt des Bundesarbeitsgerichts zu. Auch in dieser Position verwendet sie ihre Gedanken lieber auf das Jetzt. Im karriereführer spricht die oberste Arbeitsrichterin über richterliche Disziplin, die heutige Arbeitswelt und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Fragen stellte Britta Hecker.
Zur Person
Ingrid Schmidt wurde am 25. Dezember 1955 in Bürstadt geboren. Sie studierte Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Nach dem Zweiten Staatsexamen 1983 arbeitete sie zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Privat-,Verfahrensrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Frankfurt am Main. Seit 1985 war sie als Richterin in der Hessischen Sozialgerichtsbarkeit tätig, zuletzt als Richterin am Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt. Zwischenzeitlich war Ingrid Schmidt von November 1990 bis 1993 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an das Bundesverfassungsgericht abgeordnet. 1994 kam sie als Richterin ans Bundesarbeitsgericht, dessen Präsidentin sie seit 2005 ist. In ihrer Freizeit liest sie alles,war ihr unter die Finger kommt, vor allem Krimis und Biographien. Ein anderes Hobby ist Joggen – wenn es geht, zweimal pro Woche eine Stunde.
Warum haben Sie sich damals für das Richteramt entschieden?
Ausschlaggebend dürften wohl zwei Dinge gewesen sein: Zum einen hatte ich schon immer einen unabhängigen Kopf und wollte mir im Beruf wenig Vorschriften machen lassen und für meine Entscheidungen und meine Arbeit die Verantwortung selbst übernehmen. Zum zweiten war mir von vorneherein klar, dass ich Familie und Beruf am ehesten mit einer richterlichen Tätigkeit vereinbaren kann.
Was finden Sie gerade am Arbeitsrecht so interessant?
Das Arbeitsrecht regelt die Rechtsverhältnisse der mehr als 31 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland. Für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist es von ganz erheblicher wirtschaftlicher und sozialer Bedeutung. Hinzu kommt, dass es sich um ein Rechtsgebiet handelt, das vor allem im kollektiven Arbeitsrecht lückenhafte Regelungen und insgesamt eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe aufweist. Allein mit dem Wortlaut des Gesetzes lassen sich die maßgeblichen Rechtsfragen kaum klären; hierfür muss häufig in Systemen und Regelungskonzepten gedacht werden. Nicht zuletzt verlangen die vielfältigen Schnittstellen zwischen dem Kollektiv- und dem Individualrecht nach anspruchsvollen Lösungen. Insgesamt stellt das Arbeitsrecht Anforderungen, die nicht in vielen Rechtsgebieten zu finden sind.
Welche Entscheidung lag Ihnen besonders am Herzen?
Ich habe meine richterliche Laufbahn als Sozialrichterin begonnen. Dort war ich auch für Streitigkeiten auf dem Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung zuständig und musste noch erstaunlich oft über die Anerkennung von so genannten Ersatzzeiten befinden, deren Grundlage die Verhältnisse des Zweiten Weltkriegs waren. Betroffen waren einerseits die Verfolgten des NS-Regimes, deren in Akten dokumentierte Schicksale einen nicht losließen. Andererseits waren auch Angehörige der Waffen-SS betroffen, die meinten, wie Soldaten der Wehrmacht Kriegsdienst geleistet und deshalb Ansprüche auf Anerkennung rentenberechtigender Zeiten zu haben. Hier die gebotenen Tatsachenfeststellungen zu treffen und die im Gesetz angelegten Wertungen nachzuvollziehen, verlangte schon ein hohes Maß an richterlicher Disziplin.
Was sagen Sie als zweifache Mutter zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf?
Es reicht nicht nur, über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu reden, es muss auch noch unendlich viel dafür getan werden. Kinder brauchen nun einmal Betreuung. Die muss nicht allein auf die Familie konzentriert sein, sie muss aber verlässlich und vor allem auch kindgerecht sein. Mein Einkommen und das meines Mannes haben es uns ermöglicht, eine sehr zuverlässige und glücklicherweise auch zeitlich flexible Haushälterin für die Betreuung unserer Kinder einzustellen. Das kann nicht jede und jeder finanzieren. Also ist der Staat gefordert. Er hat es in der Hand, durch geeignete, ausreichende und bedarfsgerechte Kinderbetreuungsmöglichkeiten und Ganztagsschulangebote die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu fördern. Das allein genügt aber nicht. Es ist auch ein gesellschaftliches Umdenken gefragt, nicht zuletzt bei Arbeitgebern. Um Karriere zu machen, müsste es nicht notwendig sein, zig Stunden im Büro zu verbringen.Wer konzentriert und strukturiert arbeitet, der schafft sein Pensum früher und besser und hat dann auch Zeit für seine Kinder. Auf manchen Chefetagen muss sich das allerdings erst noch herumsprechen.
Die Arbeitswelt hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert.Welche positiven oder negativen Entwicklungen können Sie dabei ausmachen?
In einer weltweit agierenden Exportnation wie der unseren sind Arbeitsbedingungen einem schwindelerregenden Wandel unterworfen; das fordert von den Arbeitnehmern lebenslanges Lernen. Hinzu kommt: Die Arbeit ist aufgrund des Personalabbaus der letzten Jahre in einem Maß verdichtet worden, wie wir es bisher nicht erlebt haben. In Zeiten zunehmender Befristungen sind wir auf dem Weg, die Regel, nach der das unbefristete Arbeitsverhältnis der Normalfall und das befristete die Ausnahme ist, umzukehren. Das bleibt nicht ohne Folgen für unsere Gesellschaft. Familiengründung braucht eben auch die wirtschaftliche Sicherheit, die ein Dauerarbeitsverhältnis vermittelt.
Sie sind die erste Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts. Erfüllt Sie das mit Stolz?
Dieser Umstand erfüllt mich eher mit Ehrfurcht, aber mit Erfurcht bezogen auf das Amt. Ansonsten muss es doch nachdenklich stimmen, dass ich nach Iris Ebeling, der früheren Präsidentin des Bundesfinanzhofs, erst die zweite Frau an der Spitze eines obersten Gerichtshofs des Bundes bin. Und noch mehr Kopfschütteln muss hervorrufen, dass ich nach meiner Ernennung zur Richterin am Bundesarbeitsgericht im Jahre 1994 erst die vierte Richterin in der Geschichte dieses Gerichts war. Mittlerweile sind zwar vier weitere Kolleginnen ernannt worden. Bei einem Richterkollegium von 34 entspricht das einer Quote von circa 14 Prozent. Das ist eindeutig zu wenig.
Welche Eigenschaften machen Sie im Berufsleben so erfolgreich?
Darüber mache ich mir keine Gedanken. Sicher, ich bin kommunikativ, kann gut zuhören, konzentriert und strukturiert arbeiten, bin unerschrocken und habe auch kein schlechtes Judiz. Ob das meinen beruflichen Erfolg ausmacht, kann ich aber nicht sagen, auch deswegen, weil für solche Positionen eine Portion Glück eine Rolle spielt. Gute Juristen gibt es schließlich genug.
Warum ist die Rechtswissenschaft bei den Studenten so beliebt?
Dem Jurastudium traut man zu, es leichter als etwa naturwissenschaftliche Fächer studieren zu können, und mit dem zweiten Staatsexamen aufgrund der zunehmenden Verrechtlichung unserer Gesellschaft bessere Berufschancen als mit anderen geisteswissenschaftlichen Abschlüssen zu haben. Juristisches Wissen ist schließlich heutzutage in allen Lebensbereichen gefragt.
Zum Unternehmen
Das Bundesarbeitsgericht ist einer der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes. Es entscheidet als höchste Instanz Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet des Arbeitsrechts. Die Aufgabe der Rechtsprechung nehmen zehn Senate wahr. Diese setzen sich aus dem Vorsitzenden Richter, zwei weiteren Berufsrichtern und je einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber zusammen.
Beim Bundesarbeitsgericht sind zurzeit 34 Richter tätig, davon zehn Vorsitzende Richter, sowie 118 nichtrichterliche Beschäftigte. Außerdem werden etwa elf wissenschaftliche Mitarbeiter beschäftigt. Nach fünf Präsidenten ist Ingrid Schmidt die erste Frau in diesem Amt.
Bis zur Verlegung nach Erfurt im Jahr 1999 hatte das Bundesarbeitsgericht seinen Sitz in Kassel.