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Interview mit Hans-Jürgen Papier

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts über Gerechtigkeit, schwierige Entscheidungen und die deutsche Juristenausbildung. Die Fragen stellte Meike Nachtwey.

Zur Person

Prof. Dr. Dr. h. c. Hans-Jürgen Papier wurde am 6.7.1943 in Berlin geboren. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Nach seinem Studium der Rechtswissenschaft in Berlin folgten Promotion und Habilitation. Seit 1992 ist er Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1998 wurde er zum Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts gewählt, seit 2002 ist er Präsident des höchsten deutschen Gerichts.

Herr Präsident, was ist Gerechtigkeit?
Gerechtigkeit ist ein großer Begriff, der allerdings von vielen unterschiedlich verstanden wird. Ich meine, Gerechtigkeit beinhaltet in erster Linie eine Forderung an Gesetzgebung und Rechtsprechung, die jeweiligen, gegebenenfalls gegenläufigen, Interessen und Belange der Bürger in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.

Warum wollten Sie ausgerechnet Jura studieren?
Es wird Sie vielleicht überraschen, aber da meine Studienwahl über 40 Jahre zurückliegt, sind mir meine Überlegungen im Einzelnen gar nicht mehr so recht in Erinnerung. Aber ich weiß, dass ich schon damals die Neigung hatte, Probleme von verschiedenen Seiten zu beleuchten und an deren Lösungen eher objektiv und möglichst frei von Emotionen heranzugehen.

Welches Berufsziel hatten Sie vor Augen, als Sie mit dem Studium anfingen?
Zu meinen damaligen Berufszielen oder -wünschen kann ich Verlässliches gar nicht mehr sagen, das ist einfach zu lange her. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass das Berufsziel, Richter zu werden, schon damals bei mir vorherrschend war.

Wie viele Fälle bearbeiten Sie im Schnitt am Tag beziehungsweise in der Woche?
Am Bundesverfassungsgericht arbeiten 16 Richterinnen und Richter, die im Jahr über 5000 Verfahren erledigen. Das sind Verfahren mit ganz unterschiedlichem Aufwand und Schwierigkeitsgrad. Wegen dieser enormen Unterschiede ist es nicht sinnvoll, die Zahl der Bearbeitungen pro Tag oder pro Woche zu eruieren.

Wird auch schon mal heiß diskutiert, wenn ein Senat mit acht Richtern zu einer Entscheidung kommen muss?
Ja, selbstverständlich. Intensive Diskussionen sind Bestandteil unserer Entscheidungs- findung. Die Lebhaftigkeit der Diskussion ist allerdings je nach Materie unterschiedlich. Soweit der Rechtsfall vom Senat entschieden wird, finden immer mündliche Beratungen statt. Wenn Verfahren in den Kammern entschieden werden, geschieht dies in aller Regel im Umlaufverfahren.

Was ist ein Umlaufverfahren?
Umlaufverfahren bedeutet, dass in den – ich nenne sie mal „kleineren“ – Fällen, in denen die Kammer entscheidet, der Bericht erstattende Richter einen schriftlichen Entscheidungsentwurf erstellt, der den beiden anderen Richtern – eine Kammer ist mit drei Richtern besetzt – zugänglich gemacht wird. Stimmen die beiden Richter ohne weiteres zu, unterschreiben sie, und der Beschluss kommt zustande. Stimmen sie nicht oder nicht uneingeschränkt zu, findet regelmäßig auch in der Kammer eine Beratung statt.

Wie viele Sondervoten haben Sie abgegeben?
Ich persönlich habe bislang zwei Sondervoten abgegeben.

Hätten Sie gerne an mancher Entscheidung mitgewirkt, für die der zweite Senat zuständig war?
Die Zuständigkeiten der beiden Senate sind gesetzlich geregelt und ausgewogen verteilt. Kein Richter in unserem Hause kann sich über einen Mangel an Arbeit, aber auch nicht über einen Mangel an spannenden und brisanten Verfahren beklagen. Aber an seiner persönlichen Vorliebe sollte sich ein Richter ohnehin nicht orientieren.

Welche Entscheidung ist Ihnen besonders schwer gefallen?
Auf Anhieb kann ich Ihnen gar keine bestimmte Entscheidung nennen. Schwer fallen vor allem Entscheidungen, die die Grundfesten unseres Staates oder unserer Gesellschaftsordnung berühren. Hier kann es für den einzelnen Richter eine Wohltat sein, nicht allein, sondern innerhalb des Kollegiums zu entscheiden.

Welche Entscheidung lag Ihnen besonders am Herzen?
Als Rechtswissenschaftler bin ich vor allem mit Fragen des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes und der Wirtschafts- und Sozialordnung befasst. Daher liegen mir Entscheidungen unseres Senats zu diesem Thema vom wissenschaftlichen Interesse her natürlich besonders am Herzen.

Gefällt Ihnen eigentlich Ihre Berufskleidung?
Ja, sehr. Das Rot unserer Roben ist besonders strahlend und symbolisiert damit angemessen die Bedeutung des Amtes.

Was sollte kein Jurist während seines Studiums versäumt haben?
Er sollte neben dem juristischen Fachwissen vor allen Dingen seine Allgemeinbildung festigen, insbesondere in zeitgeschichtlicher und politischer Hinsicht, nicht zuletzt durch die tägliche Lektüre einer überregionalen Tageszeitung. Meiner Beobachtung nach ist diese Neigung bei Studenten heutzutage leider sehr gering.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, die Juristenausbildung in Deutschland zu ändern, was würden Sie anders gestalten? Würden Sie beispielsweise Allgemeinbildung zum Pflichtfach machen?
Das kann man nicht, aber Studenten sollten im eigenen Interesse über den fachlichen Tellerrand hinausblicken. Nun zu Ihrer Frage nach der Juristenausbildung: Während meiner Lehrtätigkeit an der Universität Bielefeld konnte ich die einstufige Juristenausbildung mehr als ein Jahrzehnt mitgestalten. Dabei wurden Theorie und Praxis enger verzahnt. Diese Ausbildung habe ich kennen und schätzen gelernt. Ebenso die Möglichkeit, den Prüfungsstoff nacheinander abzuschichten und auf die gesamte Ausbildungszeit zu verteilen. Auch dies scheint mir von großem Vorteil zu sein.

Gibt es Lerninhalte oder Fähigkeiten, auf die in der universitären Ausbildung mehr Wert gelegt werden sollte?
Es sollten vor allem das juristische Denken und das juristische Argumentieren eingeübt werden. Auch das Grundlagen- und Methodenwissen, das Wissen um die strukturellen und systematischen Zusammenhänge des Rechts sollten nicht zu kurz kommen. Durch eine Überfrachtung bei der Stoffvermittlung kann der essentielle Gehalt einer wissenschaftlichen Ausbildung verloren gehen. Wir sollten Wert darauf legen, dass die juristische Ausbildung eine wissenschaftliche Ausbildung bleibt.

Also die juristische Ausbildung nicht nur als „Auswendiglernen-Wissenschaft“?
So ist es!

Teilen Sie die Auffassung, dass die Weiterbildung von Juristen unzureichend ist?
Die permanente Fort- und Weiterbildung ist heutzutage für alle Berufe, auch für die juristischen Berufe von wesentlicher Bedeutung. Wenn man die universitäre Ausbildung mehr für die wissenschaftliche Fundierung nutzt und weniger die Vollständigkeit der Stoffvermittlung anstrebt, wird es umso mehr erforderlich, sich während der Berufsausübung ständig mit den sich ändernden rechtlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten vertraut zu machen, die für das spezifische Berufsfeld relevant sind. Dazu gehören vielfach auch die Entwicklungen des europäischen Gemeinschaftsrechts, das heute sehr unmittelbar in unsere Rechtsordnung hineinwirkt und vom Rechtsanwender beachtet werden muss.

Welchen Weg raten Sie jungen Menschen, deren Traum es ist, Richter am Bundesverfassungsgericht zu werden?
Ich traue den jungen Juristinnen und Juristen genügend Realitätssinn zu, sich ein näher liegendes Ziel zu setzen. Um das Amt des Bundesverfassungsrichters bewirbt man sich nicht, und auf dieses Amt kann man seine Ausbildung und seinen beruflichen Werdegang auch nicht ausrichten. Vielfältige Faktoren entscheiden über die Wahl zum Bundesverfassungsrichter.

Welche sind die entscheidenden Faktoren?
Neben der unverzichtbaren hohen juristischen Qualifikation sind für die Wahl zum Bundesverfassungsrichter auch äußere, nicht beeinflussbare Umstände entscheidend. So müssen etwa drei der Richterpositionen jedes Senates mit Richtern der obersten Bundesgerichte besetzt sein. Zudem haben die politischen Parteien ein Vorschlagsrecht. Daher ist auch eine gewisse politische beziehungsweise gesellschaftspolitische Orientierung nicht ohne Einfluss, das lässt sich gar nicht leugnen.

Sie besitzen die Ehrendoktorwürde der Universität Thessaloniki. Was verbindet Sie darüber hinaus mit Griechenland?
In Griechenland besteht ein überaus großes Interesse an der deutsche Rechtsordnung. Viele griechische Kollegen haben in Deutschland studiert, geforscht und gelehrt, und mit einigen verbindet mich ein enger fachlicher und persönlicher Austausch. Schon mein kürzlich im Alter von 92 Jahren verstorbener akademischer Lehrer pflegte solche Beziehungen zu griechischen Rechtswissenschaftlern. Dieses traditionsreiche Umfeld hat mich schon frühzeitig geprägt.

Wie kam es dazu, dass Sie im vergangenen Jahr die Predigt zum Erntedankfest in der Stadtkirche zu Karlsruhe gehalten haben?
Das Erntedankfest in der Stadtkirche von Karlsruhe wird traditionsgemäß von der hiesigen Handwerkerschaft mitorganisiert und mitgestaltet. Die Karlsruher Handwerkerschaft trat mit der Bitte an mich heran, die Predigt zu halten. Es war vor allem der Innungsmeister der Bäcker, der mich bewogen hatte, diese Aufgabe zu übernehmen.

Ihre Affinität zum Bäckerhandwerk begründet sich in Ihrer Familie: Großvater und Vater waren Bäcker. Sie sind Jurist. Nach dieser Reihenfolge müsste wieder ein Jurist folgen. Konnten Sie Ihre Kinder für das Fach begeistern?
Zum Teil. Ich habe zwei Kinder und das jüngere – ein Sohn – ist ebenfalls Jurist.

Können Sie sich vorstellen, nach Ihrem Ausstieg als Verfassungsrichter in die Politik zu gehen?
Nein, das halte ich für unvorstellbar. Im Zeitpunkt des Ausscheidens aus diesem Amt bin ich 67 Jahre. Schon das spricht nicht unbedingt für die Übernahme eines Amtes in der Politik, aber auch von meinem persönlichen Naturell her verspüre ich keine besondere Neigung, mich in der aktiven Politik zu engagieren.

Ihr Beruf ist sehr arbeitsintensiv: Was tun Sie in Ihrer Freizeit am liebsten?
Ich bin nicht nur Richter des Bundesverfassungsgerichtes, sondern auch Lehrer des Rechts an der Universität München. Schon mein Arbeitsprogramm in München in der Lehre ist aufgrund meiner Richtertätigkeit erheblich reduziert. Noch weniger Zeit bleibt für das private Leben. Ich versuche jedoch schon, für ein nötiges Maß an Entspannung zu sorgen, etwa durch Wandern in der Natur. Wir leben in Oberbayern, da bieten sich genügend Möglichkeiten der Freizeitgestaltung.

Nachgefragt

Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Beruf weit ab von einer juristischen Tätigkeit, welcher wäre das?
Geschichtswissenschaftler.

Was ist Ihr Hauptcharakterzug?
Das Streben nach Bescheidenheit und eine humorvolle Sicht der Dinge.

Welche Eigenschaften schätzen Sie an anderen Menschen?
Eigentlich dieselben.

Was ist Ihr größter Vorzug?
Meine negative Neigung, ungeduldig zu sein, hat die positive Seite, dass ich zügig arbeite und keine Aktenberge liegen lasse.

Was ist Ihnen sehr unangenehm?
Missverstanden zu werden und deswegen in Kritik zu geraten.

Was dulden Sie auf keinen Fall?
Unehrlichkeit, Schlamperei, Faulheit.

Was entschuldigen Sie sofort?
Alle anderen menschlichen Schwächen.

Gibt es etwas, was Sie unter allen Umständen auf eine Reise mitnehmen würden?
Ich nehme immer etwas Arbeit mit, vergesse aber bei längeren Urlauben hineinzuschauen.

Wo liegt Ihre Grenze?
Ich bin kein Nachtarbeiter.

Wo tanken Sie auf?
Durch Wandern in der Natur.

Wo möchten Sie leben – wenn nicht da, wo Sie jetzt schon sind?
In höherem Alter vielleicht in einer Großstadt, etwa in meiner Heimatstadt Berlin.

Was möchten Sie in fünf Jahren tun?
Wieder verstärkt als Wissenschaftler arbeiten.

Haben Sie ein Motto?
Den Humor nicht verlieren.

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