Schon als Student der Ingenieurwissenschaften hat sich Lars Vollmer eher für Themen wie Planung und Logistik interessiert als für den Maschinenbau. Seine Expertise nutzt der Universitätsprofessor, um technische Unternehmen zu beraten, wie sie Pioniergeist fördern statt verhindern. Kritisch im Blick hat der 45-Jährige dabei alle Managementpraktiken, die Ingenieure von der Arbeit abhalten, wie er auch in seinem Buch „Zurück zur Arbeit“ schreibt. Das Interview führte André Boße.
Zur Person
Lars Vollmer, geboren 1971 in Lüdenscheid, reagierte auf die Karrierewege seines Vaters und seiner älteren Brüder als Kaufmänner mit der Entscheidung:
„Genau das mache ich nicht!“ Er studierte Ingenieurwissenschaften mit den Schwerpunkten Logistik sowie Produktionsmanagement und -steuerung. Er promovierte im Jahr 2000 über eine sich selbst organisierendeProduktion. Nach dem Studium machte er sich zusammen mit einem Freund mit einer Beratungsfirma selbstständig und plante Fabriken. Seit 2006 hat er einen Lehrauftrag an der Universität Hannover, 2011 gründete er zudem den ThinkTank intrinsify.me sowie 2015 die Future Leadership eAcademy.
Herr Prof. Vollmer, ein junger Ingenieur in einem technischen Unternehmen möchte einen neuen Prozess in Gang setzen – scheitert aber an den Strukturen. Was muss sich bei seinem Arbeitgeber ändern?
Das Unternehmen muss die organisatorischen Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen, damit neue Ideen und Maßnahmen nicht nur umgesetzt werden können, sondern sogar gefördert werden. Es reicht nicht, als Arbeitgeber nur darauf zu hoffen, dass es unter den Mitarbeitern genug rebellische Pioniergeister gibt, die allen organisatorischen Widrigkeiten zum Trotz als Einzelkämpfer eine Veränderung in Gang setzen.
Warum reichen die etablierten Organisationsformen der Unternehmen vielfach nicht aus?
Weil Innovation laut Organisation nicht vorgesehen ist. Schauen Sie sich die Stellenbeschreibungen im Personalmarketing an. Da werden Dinge aufgelistet, die ein neuer Mitarbeiter tun soll. Hält er sich daran, wird sich in dem Unternehmen ganz sicher überhaupt nichts ändern. Denn ich wüsste nicht eine Stellenbeschreibung, in der ich gelesen hätte, der neue Mitarbeiter habe auch die Aufgabe, Dinge grundlegend zu ändern oder neu zu denken.
Sprich: Eigentlich suchen Unternehmen keine querdenkenden Ingenieure, sondern Leute, die streng nach Vorgabe arbeiten.
Na ja, sie suchen schon nach Innovatoren. Die meisten Unternehmen erkennen, dass es ohne gar nicht geht. Also hoffen sie im Stillen, dass die Mitarbeiter sich freischaufeln werden von den Vorschriften, die das Unternehmen selbst aufgestellt hat. Das funktioniert aber natürlich nicht, denn nicht in jedem steckt ein Held. Deutlich sinnvoller wäre es, wenn die Arbeitgeber organisatorisch dafür sorgten, dass das Querdenken und Umsetzen von Änderungen möglich ist.
Gibt es dafür einen organisatorischen Masterplan?
Tja, das hätten wir Deutschen immer gern, aber das Patentrezept gibt es nicht. Natürlich ist es ein guter Ansatz, Räume zu schaffen, in denen Ideen entstehen und umgesetzt werden können. Hilfreich ist zudem das Geschenk eines Problems. Klingt vielleicht komisch, ist aber für ein Team eine gute Sache: Wenn Sie einer gut zusammengestellten Gruppe ein Problem zur Verfügung stellen, arbeitet sie häufig sehr fokussiert an einer Lösung. Wichtig ist nur, dass es sich um ein echtes Problem handelt, also nicht um ein ernebeltes Problem nach dem Motto „Man müsste mal …“.
Unternehmen hoffen im Stillen, dass die Mitarbeiter sich freischaufeln werden von den Vorschriften, die das Unternehmen selbst aufgestellt hat.
Viel besser funktioniert ein Problem wie: „Schaut mal, unser Kunde hat vom Angebot unseres Mitbewerbers erzählt. Wir können hier gar kein Gegenangebot machen, weil uns das Produkt fehlt. Das sollten wir ändern. Und zwar bis übernächsten Mittwoch. Los geht’s.“ Sprechen Sie Ihr Team so an, werden Sie kein Problem haben, Leute dafür zu gewinnen. Und Sie werden auch nicht beobachten, dass es nur schwer in die Gänge kommt, denn das Problem ist offensichtlich dringlich. Das Team wird dann mit hoher Wahrscheinlichkeit dieses Tempo aufnehmen.
Worauf kommt es an, wenn Unternehmen und Führungskraft organisatorisch den Innovations- und Pioniergeist der Ingenieure fördern möchten?
Wenn wir einsehen, dass Kontrolle eh nicht möglich ist, können wir dazu übergehen, viele Sachen wegzulassen. Der Ökonom Peter Drucker hat einmal gesagt, 90 Prozent aller Praktiken eines Managers dienten nur dazu, den Mitarbeiter von der Arbeit abzuhalten. Und es stimmt: Wir haben uns mit den Jahren eine Summe von Mangementtätigkeiten eingehandelt, die vielleicht einmal einen guten Zweck erfüllt haben, uns jetzt aber mehr schaden als nutzen. Es ist eine Aufgabe von Führungs-, aber auch von Nachwuchskräften, diese Praktiken auf ihre Wirksamkeit zu hinterfragen. Wobei man unterscheiden muss: Ich frage nicht, ob sie mir gefällt. Sondern ob sie wirksam ist. Erkenne ich, dass das kaum noch der Fall ist, sollte ich mich fragen: Was kann ich daran ändern? Kann ich sie vielleicht einfach streichen? Und brauche ich dann tatsächlich eine neue?
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen Sie die Mitarbeitergespräche zu Beginn eines Jahres. Eine schöne Tradition, die Führungskraft und Mitarbeiter einmal im Jahr näherbringt. Aber was bringt das? Kann man das streichen? Im Grunde schon. Erstens, weil dieses Gespräch eher dem Dialog zweier Androiden gleicht, begleitet von einer Checkliste aus der Personalabteilung. Und zweitens, weil es diese Gespräche eigentlich über das ganze Jahr geben sollte, nämlich immer dann, wenn es ein echtes Problem gibt, für das eine Lösung gesucht wird.
Von den Regularien befreite Ingenieure haben die Gelegenheit, ihren Pioniergeist zu wecken.
Würden Sie jungen Ingenieuren im Unternehmen raten, schon früh gegen unsinnige Rituale anzugehen? Oder ist das Risiko zu hoch?
Berufsgruppen wie junge Ingenieure oder ITler haben ja kaum etwas zu verlieren, sie werden gesucht – zudem stehen Einsteiger häufig unter Welpenschutz. Warum also nicht den Mut haben, das eine oder andere scheinbare Tabu anzusprechen? Zum Beispiel die Unsinnigkeit der Meetingkultur in einem Unternehmen. Was Mut verlangt, aber Erfolg verspricht, ist, die Rituale zu karikieren. Das bringt Humor in die Sache – und Humor ist ein wirkungsvolles Ventil.
Buchtipp
Der Untertitel von Lars Volllmers neuem Buch gibt die Richtung seiner Argumentation vor: „Wie aus Business-Theater wieder echte Unternehmen werden“. Vollmer legt dar, wie viele Rituale und Praktiken selbst in modernen technischen Unternehmen reine Inszenierungen sind, die Zeit kosten, das Unternehmen jedoch kein Stück nach vorne bringen. Dazu zählt die Meeting-Kultur, aber auch gut gemeinte Kommunikationsformen wie ritualisierte
Mitarbeitergespräche zu Beginn eines neuen Jahres. Vollmer schlägt auch vor, was sich in den Unternehmentun muss: weg mit Routinen, die Mitarbeiter nur ermüden – hin zu einer ehrlichen und modernen Arbeitskultur. Lars Vollmer: Zurück an die Arbeit! Wie aus Business-Theatern wieder echte
Unternehmen werden. Linde Verlag 2016. 24,90 Euro
Wie kann das aussehen?
Gehen Sie zu Ihrer Führungskraft und fragen Sie ihn: „Der Tacker ist leer, darf ich Nadeln nachfüllen?“ Der wird sie angucken und sagen: „Na klar dürfen Sie das!“ Worauf Sie sagen können: „Ich dachte, ich frage lieber, weil es hier ja für alles andere auch Vorschriften gibt.“
Ist das nicht gefährlich?
Na ja, wenn Sie es charmant rüberbringen nicht unbedingt. Aber es kann Wirkung erzielen, vor allem, wenn sie neu im Unternehmen sind und noch nicht die formale Macht besitzen, Veränderungen anzustoßen. Klar, es gibt immer auch die Option, nichts gegen die Rituale und die lähmenden Strukturen zu unternehmen. Ob Sie damit auf Dauer glücklich werden, ist eine andere Frage.
Wohin führt eine Arbeitswelt, in der sinnlose Rituale verschwinden?
Es entstehen Zeit und Räume für Innovationen. Von den Regularien befreite Ingenieure haben dann endlich die Gelegenheit, ihren Pioniergeist zu wecken. Denn dieser schläft ein, wenn er nur in einem engen Zeitraum zwischen zwei Meetings gefragt ist.