Hallo, natürlich sind digitale Geräte auch für mich ein Segen. Ich möchte nicht ohne mein Handy oder das Internet leben.Aber es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich ein ideales Verhältnis von Distanz und Nähe entwickelt habe. Plus: Ich musste Zeit investieren, um den Segen auszubeuten und den Fluch auszuschalten.
Von: Anitra Eggler, Digital-Therapeutin
Gesendet: Dienstag, 11. Oktober 2016, 09:45 Dringlichkeit: hoch
An: Alle, die digital kommunizieren
Betreff: Mail halten, digital entgiften, Kuss-Bilanz verbessern
Dies ist übrigens das Zauberwort: Zeit. Sie ist die wertvollste Währung unserer aktionistischen Sofortness-Gesellschaft. Deshalb geizen wir damit und leiden unter dem zermürbenden Gefühl, ständig im Zeit-Minus zu sein.
Dabei ist Zeit der Schlüssel zum Segen. Jeder muss Zeit investieren, um Zeit zu gewinnen. Das klingt paradox, aber es funktioniert. Sie müssen Zeit investieren, um Ihre Geräte und Apps so zu konfigurieren, dass sie Ihnen das bringen, wofür die digitale Innovation angetreten ist: Zeitersparnis, viele Dinge des Alltags und des Jobs vereinfachen, Informationen und Wissen besser managen, Menschen zusammenbringen, Meinungen austauschen und, wichtig, auch ganz einfach mal Spaß haben und entspannen.
Die digitale Dauerablenkung zerstört hingegen unsere Konzentrationsfähigkeit. Wenn ich ständig versuche, alles gleichzeitig zu tun, mache ich nichts mehr richtig. Harvard-Ärzte nennen die Dauerablenkung inzwischen „ADT – Attention Deficit Trait“. Namensvater Dr. Edward Hallowell geht davon aus, dass heute jeder zweite Manager unter ADT leidet. Das heißt: Er lässt sich von der nächsten Unterbrechung, zum Beispiel einer Spam-E-Mail, sagen, was er als nächstes tut und nicht von seiner Priorisierung.
Außerdem lassen wir uns derzeit von den Medienmöglichkeiten sagen, wie wir die Technologien nutzen, und nicht von unserem Menschenverstand. Dadurch entstehen Kommunikationskrankheiten wie Handy-Hysterie, E-Mail-Wahnsinn, Sinnlos-Surf-Syndrom oder Social-Media-Inkontinenz. All das raubt uns Lebenszeit und Erfolg, beruflich und privat. Mein Tipp lautet daher ganz klar: Abschalten.
Ständig wird so getan, als sei Multitasking eine Karrieretugend. Sehen Sie sich Stellenanzeigen an: Da wird nach der Krake gesucht, die 666 Dinge auf einmal tun kann. Das ist irr. In meinen Augen zählt es heute zur unternehmerischen Verantwortung, den Leuten zu sagen: Wir wollen keine ständige Erreichbarkeit. Ständige Erreichbarkeit ist für mich inzwischen ein Synonym für miserables Zeitmanagement. Nur Sklaven sind ständig erreichbar. Das ist ein falscher Karriere-Götze, der gestürzt werden muss. Besser investieren Sie in einen Funklochraum, wo Mitarbeiter ungestört konzentriert arbeiten können.
Aber zum Glück hat ein Umdenken längst begonnen. Die Personalabteilungen merken, dass es immer mehr Krankheitstage aufgrund psychischer Erschöpfung gibt; die Chefetagen erfahren vom Produktivitätsverlust durch digitale Ablenkungen am Arbeitsplatz. Verschiedene Zusammenhänge, dasselbe Fazit: Dieser Trend ist kontraproduktiv. Wir sollten die Technik intelligent nutzen – aber wir sollten uns dabei nicht an die Technik outsourcen.
Viele Grüße
Anitra Eggler
Zur Person
Anitra Eggler ist die erste Digital-Therapeutin Deutschlands und die gefragteste Digital-Detox-Expertin im deutschsprachigen Raum. Begonnen hat diese zweite Karriere mit der Selbsttherapie. Denn davor lebte sie selbst nach dem Motto: „Immer online, volle Dosis, du kannst schlafen, wenn du tot bist.“ Heute lautet ihr Plädoyer hingegen: konfigurieren statt konsumieren. Im Mai 2016 erschien ihr aktuelles und selbst verlegtes Buch „Mail halten!“. Darin zeigt sie unter anderem, wie sich Stress reduzieren, das Leben entschleunigen, die Kuss-Bilanz verbessern und der Selbstdatenschutz trainieren lassen.
Anitra Eggler: Mail halten! Eggler, Anitra 2016. 29,99 Euro.