Wenn Projekte an Komunikationsproblemen scheitern, hat das Vasa-Syndrom wieder zugeschlagen. Der Begriff geht zurück auf das schwedische Kriegsschiff Vasa, das 1628 infolge massiver Baufehler bereits bei seiner Jungfernfahrt sank. Beraterin und Trainerin Andrea Ramscheidt erklärt im Gespräch mit André Boße, warum Hierarchie-Denken und widrige Organisationsstrukturen Projektkiller sind und wie modernes Führungsverständnis und eine souveräne Fehlerkultur zum Gelingen von Projekten beitragen.
Frau Ramscheidt, welche Bedeutung hat das Vasa-Syndrom in der heutigen Unternehmenswelt?
Die große Bedeutung wird häufig in der Projektarbeit sichtbar. Wenn Risiken zwar erkannt, jedoch nicht offen besprochen und miteinander gelöst werden, ziehen sich Mitarbeiter, Projektleiter und Führungskräfte gerne zurück – mit dem Verweis, dafür gar nicht zuständig zu sein. Niemand übernimmt nämlich gerne die Verantwortung für ein unangenehmes Thema. Das ist durchaus nachvollziehbar, zumal die Kultur in den meisten Unternehmen diejenigen Mitarbeiter und Führungskräfte belohnt, die Erfolge aufweisen und berichten. Wenn ich für eine schwierige Aufgabe die Verantwortung übernehme und eine Lösung im Team erarbeite, so birgt das immer die Gefahr, dass das Ergebnis dennoch nur als suboptimal wahrgenommen wird.
Andrea Ramscheidt: Diagnose Vasa-Syndrom. Worauf es ankommt, damit Projekte nicht aus dem Ruder laufen. Walhalla 2015. ISBN978-3-8029-4005-7. Preis 29 €.
Welche Unternehmensstrukturen fördern das Vasa-Syndrom?
Ursprung sind häufig schlechte Kommunikationsstrukturen. Der Vasa-Effekt hat daher überall dort eine große Chance, wo stark arbeitsteilig gearbeitet wird und insgesamt wenig Austausch zwischen den Mitarbeitern besteht. Es gibt beispielsweise Unternehmen, in denen nur Erfolgsmeldungen in Besprechungen aufgerufen werden und Missglücktes unter den Tisch fällt.
Heute wird von Nachwuchskräften verlangt, mit offenen Augen durch das Unternehmen zu gehen. Was sind die Hauptgründe dafür, dass dennoch häufig blinder Gehorsam zu beobachten ist?
Es ist für Mitarbeiter und Führungskräfte bequem, nur gehorsam zu sein: Dieses Verhalten entbindet von Verantwortung – und Verantwortung zu übernehmen, kann mit persönlichen Nachteilen verbunden sein. Bequemlichkeit ist eine Eigenschaft, die uns allen angeboren wurde. Selbst unser Gehirn funktioniert so, dass es Bequemlichkeit zu schätzen weiß. Es ist also einfacher, die Augen zu verschließen oder wegzuschauen, als tatsächlich die Augen offen zu halten. Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Gehorsamkeit ist historisch betrachtet das sozial anerkennte Verhalten in Unternehmensstrukturen. Im Führungsverständnis des 19. Jahrhunderts gab es einige wenige Führungskräfte, die gedacht und entschieden haben. Die meisten Mitarbeiter hatten dagegen lediglich die Aufgabe, das, was entschieden worden war, umzusetzen. Diese Struktur hat in die damalige Arbeitswelt gepasst.
Heute ist sie antiquiert.
Genau, denn die Aufgaben in großen Projekten sind in der Regel so komplex, dass sie nicht mehr von der Führungskraft alleine durchdacht und entschieden werden können. Die Führungskraft benötigt daher das Expertenwissen ihrer Mitarbeiter. Doch die hierarchischen Strukturen wirken noch nach: Ein Mitarbeiter, der seine Führungskraft überzeugen möchte, hat es nicht immer einfach – insbesondere, wenn die Führungskraft aus bestimmten Gründen eigentlich genau das Gegenteil von dem hören möchte, was der Mitarbeiter aus seiner Expertise heraus empfiehlt. Ein gutes Beispiel ist: Der Mitarbeiter schlägt Veränderungen vor, die Führungskraft hält das für unnötig. Dennoch für den Wandel einzustehen, ist schwierig. Da ist es einfacher nichts zu sagen.
Angenommen, eine Entscheidung erweist sich als falsch. Wie kann man diese revidieren, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren?
Niemand revidiert gerne eine einmal getroffene Entscheidung, selbst dann nicht, wenn man ganz klar feststellt, dass diese nicht optimal oder sogar schlecht war. Das liegt in der Natur des Menschen, wir kennen das aus unserem persönlichen Umfeld: Man kauft sich ein teures technisches Produkt und nutzt es kaum. Sehr schnell wird einem klar: Das war eine falsche Kaufentscheidung. Nur zugeben möchte man das nicht, zumindest nicht gegenüber Menschen, denen man nicht vertraut. Und hier liegt auch schon die Antwort auf Ihre Frage: Entscheidungen können also nur in einem Umfeld ohne Gesichtsverlust revidiert werden, in dem persönliches Vertrauen herrscht und eine positive Fehlerkultur etabliert ist, die dabei unterstützt, aus falschen Entscheidungen zu lernen.
Welche Strukturen muss eine Führungskraft im Unternehmen fördern, damit das Vasa-Syndrom keine Chance hat?
Besonders wichtig sind regelmäßige Mitarbeitergespräche, Teammeetings und Abteilungsgespräche – wobei regelmäßig mehr bedeutet, als einmal im Jahr. Zudem ist es wichtig, dass die Führungskraft ihre Vorbildfunktion annimmt und erfüllt. Die Idee vom Vorbild mag eine altmodische Vorstellung sein, doch wenn ich meinen Mitarbeitern genau das Verhalten vorlebe, dass ich von ihnen erwarte, dann werden mir die meisten auch folgen. Und zwar nicht, weil ich der oder die Vorgesetzte bin und sie sich hierarchisch verpflichtet sehen. Sondern weil sie es freiwillig und gerne tun.