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Mein erster Gerichtsprozess

Der erste Prozess ist etwas ganz Besonderes – endlich geht es von der trockenen Theorie in die spannende Praxis. Doch woran muss man vorher alles denken? Was muss für die mündliche Verhandlung vorbereitet werden? Dr. Lisa B. Reiser berät Mandanten zu gerichtlichen und schiedsgerichtlichen Streitigkeiten, speziell in den Bereichen Anlagenbau und Infrastruktur. Sie hat ihren ersten Prozess gewonnen. Von Dr. Lisa B. Reiser

Zur Person

Dr. Lisa B. Reiser, Foto: Baker & McKenzie
Dr. Lisa B. Reiser, Foto: Baker & McKenzie

Dr. Lisa B. Reiser ist Associate der Dispute Resolution-Gruppe bei Baker & McKenzie in Frankfurt

Hand aufs Herz: Ein Student erfährt nicht viel darüber, wie ein Prozess abläuft. Rechtsstreitigkeiten gleichen einer Kurzgeschichte („A verkauft B eine Waschmaschine. Die Waschmaschine ist undicht und verursacht einen Wasserschaden in C‘s Keller. B verklagt daraufhin A …“). Diese Kurzgeschichte muss anschließend im Gutachtenstil aufgearbeitet werden. Wer beim Rechtsstreit gewinnt, ist bis zum Ende offen und für den Studenten unerheblich.

Den ersten echten Prozessen begegnet der Referendar. Meine erste Erinnerung waren die „Gürteltiere“ in der Zivilstation – dicke, angestaubte Aktenordner, die nur noch mit einem Gurt zusammengehalten werden. Inhaltlich war „mein“ erstes Gürteltier nicht besonders spannend: Es ging um Schadensersatz nach einer misslungenen Zahnarztbehandlung. Das Verfahren lief zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Monate. Den Ausgang des Prozesses habe ich als Referendarin nicht mehr miterlebt. Wie spannend und intensiv ein Prozess tatsächlich sein kann, erfuhr ich erst in meinem ersten Jahr als Anwältin bei Baker & McKenzie. Dort begann ich 2011 als Associate im Bereich Litigation/ Arbitration. Dass ich gerade in diesem Bereich startete, hat eine Vorgeschichte. Nachdem ich als Studentin am Willem C. Vis International Commercial Arbitration Moot teilgenommen hatte, war ich von der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit begeistert. Im Vis Moot werden Schiedsverfahren im Bereich des UN-Kaufrechts simuliert. An dem Wettbewerb nehmen jährlich mehr als 290 studentische Teams aus 67 Ländern teil. Zum großen Finale treffen sich alle Teams in Wien und Hongkong zu den mündlichen Verhandlungsrunden. Solche Prozesse mit internationalem Bezug wollte ich auch im wahren Leben führen.

Bei Baker & McKenzie kam in meinem ersten Monat als Anwältin ein Kollege in mein Büro und stellte eine Packung Kopfschmerztabletten vor mich auf den Schreibtisch mit den Worten: „Damit beschäftigen wir uns in den nächsten Monaten.“ Mein erster Gedanke war, er wolle auf die bevorstehenden langen Arbeitszeiten anspielen. Tatsächlich deuteten die Kopfschmerztabletten aber auf meinen ersten großen Prozess hin: Wir vertraten ein deutsches Pharmaunternehmen in einem Schiedsverfahren gegen einen taiwanesischen Vertragspartner. Das deutsche Pharmaunternehmen hatte einen langjährigen Lizenzvertrag mit dem taiwanesischen Unternehmen geschlossen und seinem Vertragspartner Einblicke in die Herstellung der Kopfschmerztabletten gewährt. Nach einigen Jahren guter und erfolgreicher Zusammenarbeit entschlossen sich die Taiwanesen, die Kopfschmerztabletten künftig selbst herzustellen und zu vermarkten. Sie kündigten den Vertrag mit unserer Mandantin außerordentlich fristlos. Unsere Mandantin war entsetzt: Der taiwanesische Vertragspartner hatte sich die Erfahrungen der vergangenen Jahre zunutze gemacht und wollte nun „in Eigenregie“ an den Markt gehen, ohne Lizenzgebühren zahlen zu müssen. Dem wollte unsere Mandantin nicht tatenlos zusehen.

Der Vertrag zwischen dem deutschen und dem taiwanesischen Pharmaunternehmen unterlag deutschem Recht. Er enthielt zudem eine Schiedsklausel nach den Regeln der International Chamber of Commerce (ICC). Wir mussten also Schiedsklage gegen das taiwanesische Unternehmen erheben. Unsere Klage sollte unter anderem auf Schadensersatz nach § 280 Abs. 1 BGB gerichtet sein – hier bewegte ich mich also auf bekanntem Terrain. Wir wollten damit argumentieren, dass die „neuen“ taiwanesischen Tabletten schlichte Kopien des deutschen Qualitätsprodukts waren. Das erforderte ein Grundverständnis der Zusammensetzung des Produkts. Von der Wirkungsweise und Zusammensetzung von Kopfschmerztabletten hatte ich im Jurastudium jedoch nichts gelernt. Meine Arbeit an der Schiedsklage begann also mit einer umfassenden Recherche und Gesprächen mit den Pharmazeuten unseres Mandanten. So entstand Schritt für Schritt unsere Klageschrift.

Nach mehreren Monaten hatten wir Klage, Klageerwiderung, Replik und Duplik mit den Anwälten der Gegenseite ausgetauscht. Nun mussten wir uns auf die mündliche Verhandlung vorbereiten. Da die rechtlichen Argumente bereits bekannt waren, ging es hauptsächlich darum, unsere Strategie auszuarbeiten: Welche Argumente möchten wir vor dem Schiedsgericht hervorheben? Wollen wir das unlautere Verhalten der Taiwanesen betonen oder lieber im Detail erläutern, dass die chemische Zusammensetzung der deutschen und taiwanesischen Kopfschmerztabletten nahezu identisch ist? Welche Zeugen der Gegenseite möchten wir im Kreuzverhör zum tatsächlichen Geschehensablauf vernehmen? Zudem mussten wir Reisevorbereitungen treffen. Denn die Parteien hatten im Vertrag Taipeh als Schiedsort vereinbart. Es ging also mit Sack und Pack nach Taiwan.

Nach über anderthalb Jahren Prozessdauer erhielten wir die Entscheidung des Schiedsgerichts: Unsere Mandantin bekam nur einen Teil des geltend gemachten Schadens ersetzt. Denn das Schiedsgericht war der Ansicht, der taiwanesische Vertragspartner hätte den Vertrag mit dem deutschen Pharmaunternehmen ohnehin zum Ende des Jahres ordentlich kündigen dürfen. War unsere Klage damit gescheitert? Nein, denn unsere Mandantin hatte nicht tatenlos zugesehen, sondern ihr Recht verteidigt. Sie hatte den Ausgang des Prozesses damit als Erfolg verbucht. Und auch für mich war mein erster Prozess ein Erfolg, weil ich zum ersten Mal ein Schiedsverfahren von Anfang bis Ende betreuen durfte. In jedem Fall wird mir der Prozess in Erinnerung bleiben. Denn wann immer mir nun eine Packung Kopfschmerztabletten in die Hände fällt, denke ich an Taiwan.

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