Niemand möchte gerne Opfer sein. „Du Opfer!“ ist keine durch Empathie geprägte Ansprache, sondern ein Schimpfwort. Erstaunlich, haftet doch auch dem Begriff „Täter“ gemeinhin wenig Positives an. Von Dr. Oliver Tolmein, Rechtsanwalt
Recht spiegelt Wirklichkeit wider, auch in Ermittlungsverfahren. Im Strafverfahren oder dem Opferentschädigungsverfahren kann sich der Geschädigte einer Straftat keineswegs allgemeiner Sympathie und Unterstützung sicher sein. Deswegen wenden sich immer mehr Menschen, die beraubt, geschlagen oder misshandelt wurden, nicht nur an die Polizei, sondern auch an Anwältinnen und Anwälte. Wer als Rechtsanwalt Opfer vertreten will, hat einen schwierigen, aber auch spannenden Job. Gerade wenn Geschädigte schwerer Straftaten Hilfe suchen, muss man die zivilrechtlichen Schadenersatzansprüche im Blick haben und wissen, wie man die sozialrechtlichen Opferentschädigungsansprüche durchsetzen kann. Im Strafverfahren sollte man in der Lage sein, versierten Strafverteidigern, die die eigenen Mandanten unglaubwürdig erscheinen lassen wollen, Paroli zu bieten. Und man kann sich keineswegs darauf verlassen, dass es die Staatsanwaltschaft im schlimmsten Fall schon richten wird: Deren Sitzungsvertreter haben oft kaum Kenntnis der Akten, und auch in großen Verfahren haben sie oftmals andere Interessen als die Geschädigten.
Die Staatsanwaltschaft will die Verfahren meist zügig abschließen, Schadenersatzforderungen der Geschädigten sind ihnen da eine unwillkommene Ablenkung. Aber auch die Genugtuungsinteressen der Opfer von Gewalt erscheinen etlichen Staatsanwälten unbedeutend. Das gilt vor allem, wenn Angehörige von Randgruppen als Nebenkläger auftreten: Prostituierte, Obdachlose, Schwule, Frauen, die schon viel Gewalt erfahren haben. Besonders schwierig sind Verfahren, in denen Menschen mit geistigen Behinderungen oder Demenzen Opfer wurden: Hier ist es schon eine Leistung, überhaupt eine Anklageerhebung zu erreichen.
Aber auch der Umgang mit den Mandanten ist oft nicht gerade leicht: Es sind oftmals traumatisierte Menschen, die wenig Verständnis für die Formalien juristischer Prozeduren haben und die sich damit auch nicht befassen wollen. Die Anwälte, die versuchen, ihnen zu erklären, wo in den kommenden Rechtsstreitigkeiten Probleme auftauchen können und warum, sind für sie als Überbringer bisweilen nicht besser als die schlechte Nachricht selbst.
Dafür können die Erfolge auch nachhaltig sein, beispielsweise in einem Fall, in dem der Lebensgefährte seine Freundin so zusammengeschlagen hatte, dass sie einen schweren Hirnschaden erlitt: Am Ende stand für den Täter eine mehrjährige Haftstrafe, in der er anfing, die 40.000 Euro Schmerzensgeld zu zahlen. Die Entschädigungsleistung nach dem Opferentschädigungsgesetz war gegen die widerspenstige Behörde durchgesetzt. Und es war gelungen, eine ambulante Pflege zu organisieren, die ein selbstbestimmtes Leben der Mandantin ermöglichte.
Der Fachanwalt für Medizinrecht ist Mitglied der Task-Force „Opferrechte“ im DAV und Mitbegründer der Kanzlei Menschen und Rechte in Hamburg, die vor allem Menschen mit Behinderungen vertritt.