Die erste Hälfte seines Lebens stand im Zeichen geschäftlichen Erfolgs. Dann wollte Ingenieur Hermann Ricker im Geistigen expandieren, verschenkte seine millionenschwere Firma und wurde buddhistischer Bettelmönch. Heute lehrt er Manager unter dem Namen Han Shan ethisches Wirtschaften. Von Martin Häusler
Han Shan stammt aus einem konservativen Offenbacher Haushalt. Seine Eltern, so sagt er, hätten ihm nicht viel mitgeben können. Er war auf sich allein gestellt. Das Wesen des Einzelgängers begleitet ihn bis heute. Obwohl sich immer mehr Fans um ihn scharen. „Auch meine Identität als Ingenieur habe ich nie abgelegt“, versichert er. „Mein Fachwissen ist sogar schärfer und fundierter geworden.“ Ein Ingenieur, so Han Shan, habe immer mit den vier Grundelementen des Universums zu tun – Temperatur, Bewegung, Materie, Luft. „Im Zusammenspiel halten sie das ganze Universum, uns eingeschlossen, in Gang.“ Darunter liege eine Logik, der er auch im Buddhismus begegnete.
Infos zum Nava Disa Retreat Center: www.navadisa.com
Hermann Ricker hätte tot sein können, tot sein müssen. Mit seinem roten Jaguar wird der deutsche Ingenieur und Selfmade-Millionär nachts auf dem Weg von der Firmenzentrale in Singapur nach Penang im Nordosten Malaysias von einem Holztransporter abgedrängt. Der Wagen überschlägt sich mehrfach, bleibt völlig demoliert auf dem Dach liegen. Doch Ricker lebt, ist sogar in der Lage, aus dem zerborstenen Heckfenster herauszukriechen. Nichts weiter als einen kleinen Kratzer am Ohr hat er abbekommen. Das alles passiert 1995, als Rickers Unternehmen in der Blüte steht. Mitte der 70er-Jahre war er ausgewandert, um als Hersteller von Plastikteilen von Thailand aus die Welt zu erobern. Er expandierte in einem Mordstempo. Wäre der Unfall nicht gewesen, wäre Hermann Ricker heute womöglich einer der erfolgreichsten deutschen Unternehmer.
Doch der Beinahetod verändert sein Leben fundamental. Kurz nach dem Crash, als Ricker im Hotel sitzt und es ruhiger wird, wird ihm klar, wie schnell es mit uns zu Ende gehen kann. Plötzlich wird der Ingenieur, der sich seit seiner Zeit in Asien intensiv mit dem Buddhismus beschäftigt, von den großen Lebensfragen heimgesucht: Warum sind wir hier? Was soll das Ganze? „Ich war in einem ganz seltsamen Zustand“, erinnert er sich. „Es war eine Art Schwebezustand. Ich wusste nicht mehr, wohin ich gehöre.“
Er trifft eine radikale Entscheidung: All das, was er sich sein Leben lang aufgebaut hat, will er hinter sich lassen. Nur um diese Fragen zu klären. Aber wie er das tut! Er verschenkt die Firma an seine Mitarbeiter, legt sein Luxusapartement, seine Autos und die Yacht noch obendrauf. Selbst Freunde halten Ricker für irre. Er aber meint es ernst. Ja, er will sein neues Leben als Bettelmönch in den thailändischen Wäldern verbringen, meditierend, suchend nach dem Sinn des Lebens. Dort wird der Deutsche seinen Namen ändern. Von Hermann Ricker zu Han Shan.
Buchtipp
Han Shan: Achtsamkeit: Die höchste Form des Selbstmanagements.
Trinity Verlag 2012. ISBN 978-3941837751. 14,95 Euro
Hermann Ricker wurde 1951 in Offenbach geboren. Früh entwickelte er ein Interesse für technische Abläufe, ging in den Ferien freiwillig in die Betriebe seiner Heimat und bat die Meister darum, ihm Produktionsprozesse zu erklären. Diese Passion überträgt er auf sein soziales Umfeld. Schon als Schüler sind ihm die unlogischen Verhaltensweisen seiner Mitmenschen ein Rätsel. „Ich habe sie beobachtet und gemerkt, dass sie hirnlos irgendwohin rannten, ohne zu wissen, was sie eigentlich tun. Ich selber aber war es gewohnt, Dinge ganz bewusst zu tun. Ich habe mir schon früh meine eigene Logik aufgebaut.“
Die Logik. Sie wird zu einem Schlüsselwort in Rickers Leben. Als Ingenieur, als Unternehmer, als Mönch und heute als Lehrmeister. Master Han Shan ist sich sicher: Allem wohnt eine Logik inne. Durchschauen wir diese, wird vieles einfacher. Damals in Hessen sind ihm diese verborgenen Gesetze noch relativ egal. Er studiert an der Frankfurter Goethe-Universität Ingenieurwissenschaften, spezialisiert sich auf Maschinenbau und Präzisionstechnik – ohne konkretes Berufsziel. Mit 22 macht er sein Diplom. Über seinen ersten Arbeitgeber kommt er das erste Mal nach Thailand, wo Ricker aus kultureller Faszination hängenbleibt. Er wechselt als Produktionsleiter zum Kamerahersteller Rollei, der ein neues Werk in Singapur eröffnet. Danach die Selbstständigkeit, die mit dem Erwerb zweier Plastikspritzgussmaschinen beginnt. Die Geschäftsidee: die Einzelteile, die der Westen für seine Produkte benötigt, nicht mehr bloß in Asien zusammenbauen zu lassen, sondern diese direkt dort zu produzieren.
Der Plan geht auf. Rickers Unternehmen wächst und wächst. Erst im fernen Osten, später in der ganzen Welt. Dann der Unfall. „Ich bin dem Ingenieurstudium dankbar, da es mich lehrte, das logische Denken anzuwenden“, erklärt Han Shan heute. „Ich habe verstanden, dass das eine immer das andere nach sich zieht. Diese Logik habe ich im Buddhismus wiedergefunden. Alles ist im energetischen Austausch. Das hat mir sehr imponiert. Durch die Ingenieurwissenschaften erfährt man die Basis, die Logik der Dinge. Deshalb kann ein Ingenieur eigentlich alles tun. Bringt man noch kommerzielles Wissen mit und eine gewisse Spiritualität, durch die der Beruf nicht bloß zum Eigennutz ausgelebt wird, ist man eigentlich unschlagbar.“
Längst trägt der Aussteiger das „Dipl. Ing.“ nicht mehr vor seinem Namen. Stattdessen ein „Master“, zu dem er aufgestiegen ist. Den Titel erarbeitete er sich durch beharrliches Trainieren seiner geistigen Fähigkeiten in der Kargheit Thailands und durch das strenge Befolgen der 227 buddhistischen Mönchsregeln. Mit orangefarbener Kleidung, Bettelschale, Bastmatte, Moskitonetz und einem Gaskocher verabschiedete er sich für zehn Jahre ins Outback, bevor er die Erlaubnis erhielt, als Lehrer sein Wissen und seine Weisheit denen zu vermitteln, mit denen er früher so viel zu tun hatte – den Managern.
Heute betreibt Han Shan das Refugium Nava Disa im Nordosten Thailands, in dem er Suchenden den Buddhismus, das Meditieren und ethisches Wirtschaften beizubringen versucht. Mehrmals im Jahr reist er zurück nach Deutschland, um seine Erkenntnisse in Seminaren, Vorträgen und Workshops weiterzugeben. Gerade veröffentlichte er sein Buch „Achtsamkeit – Die höchste Form des Selbstmanagements“. „Die Achtsamkeit ist der Schlüssel zu allem“, sagt Han Shan, „auch im Hinblick auf eine nachhaltige Firmenkultur. Würde ich noch einmal ein Unternehmen führen, würde ich jedem einzelnen Mitarbeiter die Möglichkeit geben, bei sich selbst die Achtsamkeit zu etablieren, also die Fähigkeit, immer und zu jeder Zeit im Hier und Jetzt zu sein.“ Firmen, die die Achtsamkeit zu einem zentralen Prinzip machten, so Han Shan, kämen in eine ganz neue Energie. „Wird achtsam gearbeitet, passieren weniger Fehler, weniger Betriebsunfälle, die Mitarbeiter sind ausgeglichener, sind seltener krank, der Burnout wird vermieden.“ Dabei, versichert er, ginge es nicht nur darum, die Effizienz zu steigern. Gleichzeitig werde etwas viel Größeres spürbar: eine Form von Frieden.
Dass ein Ingenieur seine Firma verschenkt und Bettelmönch wird, ist eine beispiellose Geschichte. Dass sich Manager, Firmenbosse oder Vertreter klassischer technischer Berufe plötzlich in Seminaren, Workshops und Lektüre der Spiritualität hingeben, ist hingegen längst kein Einzelfall mehr. Scheinen viele Entscheider doch zu realisieren, dass die jahrzehntelange Abwesenheit geistiger Elemente ihre Unternehmen in die Sackgasse geführt hat. Beispiele für diese Erkenntnis sind der Düsseldorfer Firmengründer Paul Kothes, der auf Zen-Meditation schwört und 2012 „Das Buch vom Nichts“ veröffentlichte, oder der Wirtschaftsberater Dr. Kai Romhardt, der – wie Han Shan – unter anderem Achtsamkeitsseminare anbietet. Nach einer TNSInfratest-Studie von 2009 praktizieren inzwischen knapp 20 Prozent der deutschen Manager spirituelle Techniken.